Dieses Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (6B_542/2024 vom 12. November 2025) befasst sich mit Beschwerden gegen Schuldsprüche wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, Gefährdung des Lebens und Nötigung sowie gegen die Strafzumessung und Landesverweisung. Der Beschwerdeführer A.A.__ ficht das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 9. November 2023 an, welches ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilte und eine Landesverweisung von sieben Jahren anordnete.
I. Sachverhalt und Vorinstanzliches Verfahren
Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland verurteilte A.A.__ am 2. Juni 2022 unter anderem wegen mehrfacher Gefährdung des Lebens, Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, mehrfacher qualifizierter einfacher Körperverletzung und mehrfacher Nötigung zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren und einer Geldstrafe. Es ordnete zudem eine Landesverweisung von sieben Jahren an.
Auf Berufung des A.A._ und Anschlussberufung der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern bestätigte das Obergericht des Kantons Bern am 9. November 2023 die meisten Schuldsprüche, sprach A.A._ aber von einem Vorwurf der Gefährdung des Lebens und einer qualifizierten einfachen Körperverletzung frei. Es erhöhte die Strafe auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und bestätigte die Landesverweisung.
Der Vorinstanz legte insbesondere folgenden Sachverhalt zugrunde: Zwischen 2014 und 2017/2019 erniedrigte, demütigte und züchtigte A.A._ seine vier Kinder und seine Stieftochter wiederholt. Einmal stand er seiner Tochter B.A._ mit einem Fuss auf den Hals, wodurch diese kurzzeitig keine Luft mehr bekam. Zudem drohte er ihr mit dem Tod, falls sie ihren besten Freund kontaktiere, und drohte B.A._ und D.A._ mit Rauswurf oder Kinderheim, falls sie Kontakt zu C.A.__ aufnehmen oder den Behörden die Wahrheit sagen würden.
II. Wesentliche Rügen und Beurteilung durch das Bundesgericht
Der Beschwerdeführer beantragte die teilweise Aufhebung des Urteils, Freispruch von Gefährdung des Lebens, mehrfacher Nötigung und Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht, den Verzicht auf die Landesverweisung und die Rückweisung zur neuen Strafzumessung.
1. Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (Art. 219 StGB)
- Rüge des Beschwerdeführers: Er kritisierte das Fehlen sachlicher Beweise und psychischer oder physischer Folgeerscheinungen bei den Kindern. Er argumentierte, die Kinder hätten sich gut entwickelt, wie aus Berichten der Beiständin hervorgehe.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte klar, dass Art. 219 StGB ein konkretes Gefährdungsdelikt ist. Es erfordert nicht, dass eine minderjährige Person tatsächlich in ihrer Entwicklung gestört wurde, sondern lediglich, dass eine konkrete Gefahr für ihre körperliche und seelische Entwicklung bestand. Eine abstrakte Gefährdung genügt jedoch nicht.
- Beurteilung der Vorinstanz durch das Bundesgericht: Die Vorinstanz hatte die Vielzahl und Intensität der Übergriffe (Gefährdung des Lebens, Körperverletzungen, Nötigungen, Drohungen, Beschimpfungen) über fünf Jahre als unzweifelhaft gefährdend für die Entwicklung der Kinder eingestuft. Sie hob hervor, dass der Beschwerdeführer ein Klima der Angst und Isolation geschaffen, die Kinder systematisch von ihrer Mutter distanziert und sie zu unredlichen Handlungen (Lügen gegenüber Behörden, Verkauf von "selbstgemachten" Madeleines) angeleitet habe. Die Behauptung des Beschwerdeführers, aus Berichten ergäben sich keine Anhaltspunkte für Folgeerscheinungen, wurde als Verkennung des konkreten Gefährdungscharakters des Delikts zurückgewiesen. Das Bundesgericht bestätigte, dass das Fehlen einer attestierten Entwicklungsstörung nicht das Nichtbestehen einer entsprechenden Gefahr bedeutet. Die glaubhaften Aussagen der Kinder, die ihre Handlungen erklärten (Lügen auf Anweisung, Verstecken von Verletzungen), wurden als überzeugend erachtet. Der Umstand, dass die Kinder den Kontakt nicht gänzlich abbrachen, änderte nichts an der rechtlichen Würdigung, da dies bei häuslicher Gewalt nicht zwingend der Fall ist. Neue Beweismittel (Hochzeitsfotos) nach dem angefochtenen Urteil wurden als echte Noven im bundesgerichtlichen Verfahren ausgeschlossen (Art. 99 Abs. 1 BGG).
- Ergebnis: Die Rüge des Beschwerdeführers hinsichtlich der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht wurde als unbegründet abgewiesen.
2. Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB)
- Rüge des Beschwerdeführers: Er bestritt die Sachverhaltsfeststellung mangels objektiver Beweise (ärztliches Zeugnis, Zeugen für Verletzungen) und die Erfüllung des objektiven Tatbestands, da die Tochter angeblich nicht am Atmen gehindert worden sei.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts: Der Tatbestand erfordert eine konkrete, unmittelbare Lebensgefahr, d.h. eine nahe Möglichkeit der Todesfolge nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge.
- Beurteilung der Vorinstanz durch das Bundesgericht: Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer seiner am Boden liegenden Tochter B.A.__ mit einem Fuss auf den Hals gestanden sei, wodurch diese kurzzeitig keine Luft mehr bekommen und sich dem Erstickungstod nahe gefühlt habe. Das Bundesgericht befand die Beweiswürdigung der Vorinstanz als nicht willkürlich. Die Vorinstanz stützte sich auf die glaubhaften und detailreichen Aussagen von B.A.__ (mit vielen Realkennzeichen, unvorbereiteter Erzählweise, logischen Begründungen) im Gegensatz zu den unglaubhaften und widersprüchlichen Aussagen des Beschwerdeführers. Das Fehlen objektiver Beweise oder Zeugen wurde damit begründet, dass das Opfer Verletzungen versteckt und auf Anweisung des Vaters gelogen habe und von einem Kind nicht erwartet werden könne, selbständig einen Arzt aufzusuchen. Die erhebliche Krafteinwirkung eines Erwachsenen auf den empfindlichen Hals eines Kindes, wodurch die Luftzufuhr abgeschnitten wurde, begründete die konkrete, unmittelbare Lebensgefahr.
- Ergebnis: Die Rüge des Beschwerdeführers wurde als ungenügend substanziiert erachtet und daher nicht darauf eingetreten, soweit die rechtliche Würdigung der Tatbestandsmässigkeit angegriffen wurde. Die Sachverhaltsrüge war unbegründet.
3. Mehrfache Nötigung (Art. 181 StGB)
- Rüge des Beschwerdeführers: Er bestritt, dass die Kinder ihr Verhalten aufgrund seiner Äusserungen tatsächlich geändert hätten.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht prüfte die Rüge unter dem Gesichtspunkt der Begründungspflicht der Vorinstanz (Art. 112 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 BGG i.V.m. Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO). Für den Tatbestand der Nötigung ist der Taterfolg (Änderung des Verhaltens des Opfers) und dessen Kausalität durch die Tatbegehung zwingend festzustellen und zu begründen.
- Beurteilung der Vorinstanz durch das Bundesgericht:
- Nötigung 1 (Drohung mit Tod/Tunesien bei Kontakt mit Freund): Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz in ihrem Sachverhalt keine Feststellungen dazu getroffen hatte, ob B.A.__ den Kontakt zu ihrem besten Freund tatsächlich abgebrochen und damit ihr Verhalten aufgrund der Drohung angepasst hatte. Die notwendige Feststellung des Taterfolgs und der Kausalität fehlte.
- Nötigung 2 (Drohung mit Rauswurf/Kinderheim bei Kontakt mit C.A.__): Auch hier hatte die Vorinstanz nicht festgestellt, ob B.A._ und D.A._ den Kontakt zu C.A.__ tatsächlich abgebrochen oder einen gewünschten Kontakt unterlassen hatten.
- Nötigung 3 (Drohung mit Kinderheim bei Wahrheit gegenüber Behörden): Die Rüge des Beschwerdeführers, er habe die Äusserung nicht gemacht, wurde als unsubstanziiert und aktenwidrig abgewiesen. Die Vorinstanz hatte glaubhaft festgestellt, dass die Kinder unter Druck gesetzt wurden, zu lügen, und ihnen Videos von weinenden Kindern im Heim gezeigt wurden, was den Taterfolg (Unterlassen der Wahrheitsaussage) plausibel begründete.
- Ergebnis: Die Beschwerde wurde bezüglich der Nötigungsvorwürfe (Dispositivziffern V.3.1 und V.3.2) teilweise gutgeheissen. Das angefochtene Urteil wurde in diesen Punkten aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zur Ergänzung des Sachverhalts und zur neuen rechtlichen Würdigung zurückgewiesen, da die Begründungspflicht verletzt worden war.
4. Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft und Verbot der reformatio in peius
- Rüge des Beschwerdeführers: Er argumentierte, die Zulassung der auf die Strafzumessung beschränkten Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft sei bundesrechtswidrig gewesen, da die Staatsanwaltschaft in den Schlussanträgen eine höhere Strafe (66 Monate) verlangt habe als ursprünglich vor erster Instanz (54 Monate). Dies hätte zu einer Verletzung des Verbots der reformatio in peius geführt.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht erläuterte die Besonderheiten der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft (Art. 401 StPO). Eine Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft birgt das Risiko des Missbrauchs (Einschüchterung der beschuldigten Person), insbesondere wenn sie ohne nähere Begründung nur die Strafzumessung betrifft, obwohl die erste Instanz dem Antrag der Staatsanwaltschaft vollumfänglich gefolgt ist (BGE 147 IV 505 E. 4.4.2 f.). Allerdings ist eine Anschlussberufung zulässig, wenn die Erstinstanz vom Antrag der Staatsanwaltschaft abweicht und die Staatsanwaltschaft in ihrer Anschlussberufungserklärung (nicht erst in den Schlussanträgen) ihre Anträge auf die im erstinstanzlichen Verfahren geforderten beschränkt (Urteil 6B_68/2022 E. 5 ff.).
- Beurteilung durch das Bundesgericht: Im vorliegenden Fall hatte die Erstinstanz den Beschwerdeführer zu 36 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, obwohl die Staatsanwaltschaft 54 Monate beantragt hatte. Die Erstinstanz war dem Antrag der Staatsanwaltschaft also nicht gefolgt. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrer Anschlussberufungserklärung (nicht den späteren Schlussanträgen) eine Freiheitsstrafe von 54 Monaten beantragt, was ihrem ursprünglichen erstinstanzlichen Antrag entsprach. Daher trat die Vorinstanz zu Recht auf die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft ein. Da die Anschlussberufung zulässig war, war die Vorinstanz auch nicht an das Verbot der reformatio in peius (Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO) gebunden. Auch wenn die Staatsanwaltschaft mit ihren späteren, mündlichen Schlussanträgen auf 66 Monate gegen Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) verstossen haben sollte, hinderte dies die Vorinstanz nicht daran, über den in der zulässigen Anschlussberufung formulierten Antrag hinauszugehen.
- Ergebnis: Die Rüge des Beschwerdeführers wurde als unbegründet abgewiesen.
III. Rückweisung und Kosten
Die Beschwerde wurde teilweise gutgeheissen und im Übrigen abgewiesen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern wurde aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Vorinstanz muss den Sachverhalt hinsichtlich der Nötigungsvorwürfe (V.3.1 und V.3.2) vollständig feststellen, rechtlich neu würdigen, die Strafzumessung neu vornehmen und über die Landesverweisung erneut entscheiden.
Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer im Umfang seines Unterliegens auferlegt, jedoch reduziert. Eine Parteientschädigung wurde seinem Rechtsvertreter für den obsiegenden Teil zugesprochen. Die unentgeltliche Rechtspflege der Beschwerdegegnerin 2 wurde gutgeheissen.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Fürsorge- und Erziehungspflicht: Der Schuldspruch wurde bestätigt. Art. 219 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt, das keine tatsächlich eingetretenen Entwicklungsstörungen voraussetzt, sondern das Bestehen einer konkreten Gefahr. Die Vielzahl und Intensität der psychischen und physischen Übergriffe durch den Vater über Jahre hinweg wurde als hinreichende Gefährdung beurteilt.
- Gefährdung des Lebens: Der Schuldspruch wurde bestätigt. Die Feststellung, der Vater habe seiner Tochter mit dem Fuss auf den Hals gestanden und so kurzzeitig die Luft abgeschnitten, wurde als glaubwürdig erachtet (gestützt auf detaillierte Aussagen des Opfers). Dies begründet eine konkrete, unmittelbare Lebensgefahr.
- Nötigung: Die Schuldsprüche für zwei spezifische Nötigungsvorwürfe (Kontaktabbruch zum Freund und zu C.A.__) wurden aufgehoben. Das Bundesgericht rügte, dass die Vorinstanz den Taterfolg (tatsächliche Verhaltensänderung der Opfer) und die Kausalität zwischen Drohung und Verhaltensänderung nicht ausreichend im Sachverhalt festgestellt und begründet hatte, was eine Verletzung der Begründungspflicht darstellt.
- Anschlussberufung und reformatio in peius: Die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft wurde bestätigt. Da die Erstinstanz eine tiefere Strafe als von der Staatsanwaltschaft beantragt ausgesprochen hatte, war die Staatsanwaltschaft zur Anschlussberufung berechtigt. Damit war die Vorinstanz nicht an das Verbot der reformatio in peius gebunden, auch wenn die Staatsanwaltschaft in den Schlussanträgen eine höhere Strafe forderte als initial in ihrer Anschlussberufungserklärung.
- Rückweisung: Die teilweise Aufhebung der Nötigungsvorwürfe führt zu einer Rückweisung an die Vorinstanz, die den Sachverhalt ergänzen, die rechtliche Würdigung neu vornehmen, die Strafzumessung anpassen und über die Landesverweisung neu entscheiden muss.