Zusammenfassung von BGer-Urteil 5A_783/2025 vom 4. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 5A_783/2025 vom 4. November 2025

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (BGer) befasst sich mit der Beschwerde gegen einen Entscheid des Kantonsgerichts des Kantons Freiburg, welches der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege (URP) für das kantonale Berufungsverfahren verweigert hatte. Im Kern dreht sich die Auseinandersetzung um die Auslegung und Anwendung der Voraussetzungen für die Gewährung der URP, insbesondere der Mittellosigkeit und der Frage der Rückwirkung.

I. Sachverhalt und Streitgegenstand

Die Beschwerdeführerin A._ ist die Mutter des im Mai 2021 geborenen Sohnes B._ aus einer unverheirateten Beziehung mit C.__. Im September 2022 leitete sie ein Verfahren zur Regelung der elterlichen Sorge, Obhut, des persönlichen Verkehrs und des Unterhalts für den Sohn ein. Der Präsident des Zivilgerichts des Broye-Bezirks entschied im November 2024 unter anderem auf gemeinsame elterliche Sorge (mit Ausnahme medizinischer Entscheidungen durch die Mutter), Zuteilung der Obhut und des Aufenthaltsbestimmungsrechts an die Mutter, Festlegung des Besuchsrechts des Vaters und Unterhaltsbeiträge des Vaters in Höhe von CHF 1'100.- (bis März 2025) bzw. CHF 1'400.- (bis zur Mündigkeit).

Gegen diesen Entscheid legte der Vater im Januar 2025 Berufung ein. Die Mutter beantragte im März 2025 die Abweisung der Berufung und stellte am 2. April 2025 ein Gesuch um vollständige unentgeltliche Rechtspflege für das Berufungsverfahren. Das Kantonale Gericht des Kantons Freiburg gab der Berufung des Vaters teilweise statt, modifizierte die erstinstanzliche Entscheidung (u.a. uneingeschränkte gemeinsame elterliche Sorge, kein ausschliessliches Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter, reduzierte Unterhaltsbeiträge des Vaters) und wies das Gesuch der Mutter um URP für das Berufungsverfahren ab. Die Gerichtsgebühren wurden geteilt (CHF 750.- zu Lasten der Mutter), die Parteikosten blieben jeder Partei selbst auferlegt.

Die Beschwerdeführerin gelangte daraufhin an das Bundesgericht und beantragte die Aufhebung des kantonalen Entscheids hinsichtlich der URP-Verweigerung und die Gewährung der URP für das Berufungsverfahren mit Rückwirkung auf den 20. Januar 2025 (Datum der Berufung des Vaters). Zudem ersuchte sie um URP für das Verfahren vor Bundesgericht.

II. Erwägungen des Bundesgerichts 1. Zulässigkeit der Beschwerde

Das Bundesgericht stellte fest, dass die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege einen materiell definitiven Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG darstellt und nicht – wie von der Beschwerdeführerin fälschlicherweise geltend gemacht – einen Zwischenentscheid. Der Entscheid ist somit direkt mit Beschwerde in Zivilsachen anfechtbar. Da der Hauptstreitgegenstand (elterliche Sorge, Obhut, Unterhalt) eine zivilrechtliche Angelegenheit nicht-vermögensrechtlicher Natur (Art. 72 Abs. 1 BGG) ist, waren die formellen Voraussetzungen für die Beschwerde in Zivilsachen grundsätzlich erfüllt.

2. Prüfungsrahmen

Das Bundesgericht prüft Rechtsverletzungen von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG). Für die Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte, insbesondere der Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV), gilt jedoch eine qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), ausser bei offensichtlich unrichtiger oder rechtsverletzender Feststellung (Art. 105 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 97 Abs. 1 BGG).

3. Materielle Prüfung: Unentgeltliche Rechtspflege 3.1. Rechtsgrundsätze der unentgeltlichen Rechtspflege

Das Bundesgericht rekapitulierte die massgebenden Grundsätze zur URP gemäss Art. 117 ZPO, welche eine Konkretisierung von Art. 29 Abs. 3 BV darstellt.

  • Voraussetzungen (Art. 117 lit. a und b ZPO):

    • Mittellosigkeit (lit. a): Eine Person ist mittellos, wenn sie die Prozesskosten nicht aufbringen kann, ohne ihren notwendigen Lebensunterhalt oder den ihrer Familie zu gefährden. Zur Bestimmung der Mittellosigkeit ist die gesamte finanzielle Situation des Gesuchstellers zum Zeitpunkt des Gesuchs umfassend zu berücksichtigen, einschliesslich Einnahmen, Vermögen und Ausgaben.
    • Notwendiger Lebensunterhalt: Dieser wird in der Regel basierend auf dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum zuzüglich 25% berechnet (vgl. ATF 124 I 1 E. 2c). Hinzu kommen tatsächliche und notwendige Kosten wie Miete, obligatorische Krankenversicherungsprämien und unentbehrliche Fahrtkosten zur Einkommenserzielung. Die Behörde muss die individuellen Verhältnisse berücksichtigen und darf nicht zu schematisch vorgehen (ATF 135 I 221 E. 5.1). Nur tatsächlich bezahlte Lasten werden berücksichtigt (ATF 135 I 221 E. 5.1).
    • Vermögen: Ein Gesuchsteller muss grundsätzlich sein Vermögen einsetzen, bevor er URP erhält.
    • Amortisationsfähigkeit: URP wird nicht gewährt, wenn die verfügbaren Mittel die Gerichts- und Anwaltskosten innerhalb von maximal einem Jahr (bei relativ einfachen Prozessen) oder zwei Jahren (bei anderen Verfahren) decken können (ATF 141 III 369 E. 4.1).
    • Beweislast (Art. 119 Abs. 2 ZPO): Der Gesuchsteller muss sein Gesuch motivieren und alle notwendigen Belege beibringen, um seine Mittellosigkeit nachzuweisen. Bei unvollständigen Angaben oder unklarer Situation ist das Gesuch abzuweisen (ATF 125 IV 161 E. 4a).
    • Verfahren vor Rechtsmittelinstanz (Art. 119 Abs. 5 ZPO): Die URP muss für jede Instanz neu beantragt werden. Die Rechtsmittelinstanz ist bei der Prüfung der Mittellosigkeit nicht an die Einschätzung früherer Instanzen gebunden (ATF 149 III 67 E. 11.4.2).
    • Rechts- vs. Sachfrage: Die Kriterien zur Beurteilung der Mittellosigkeit sind Rechtsfragen (vom Bundesgericht frei prüfbar), während die konkrete Feststellung von Aktiven und Passiven Sachfragen sind (nur auf Willkür überprüfbar).
  • Rückwirkung der URP (Art. 119 Abs. 4 ZPO):

    • Das URP-Gesuch ist grundsätzlich so früh wie möglich einzureichen (Art. 119 Abs. 1 ZPO). Die URP wird grundsätzlich ab dem Zeitpunkt des Gesuchs und für die Zukunft gewährt (Art. 119 Abs. 4 ZPO a contrario; ATF 122 I 322 E. 3b). Dies umfasst auch Vorarbeiten des Anwalts für die betreffende Verfahrensstufe.
    • Ausnahmen: Eine rückwirkende Gewährung ist nur in Ausnahmefällen zulässig, namentlich wenn wegen der Dringlichkeit einer zwingend vorzunehmenden Prozesshandlung ein gleichzeitiges URP-Gesuch nicht möglich war (ATF 122 I 203 E. 2f). Umstände, die lediglich die finanzielle Situation des Gesuchstellers betreffen, genügen für sich allein nicht, eine Rückwirkung zu rechtfertigen (ATF 122 I 203 E. 2f).
3.2. Begründung des Kantonsgerichts

Das Kantonsgericht hatte festgestellt, dass die Beschwerdeführerin trotz einer Phase der Arbeitslosigkeit einen monatlichen positiven Saldo von rund CHF 790.- aufwies (Einnahmen CHF 5'275.55 abzüglich des betreibungsrechtlichen Existenzminimums plus 25% und weiterer Posten wie Miete, Krankenkasse, Suchkosten, medizinische Kosten, Versicherungs- und Kommunikationspauschale). Die von ihr beanspruchten Prozesskosten (geschätzte Anwaltskosten von CHF 3'000.- sowie Gerichtsgebühren von CHF 750.-) könnten aus diesem Überschuss in weniger als einem Jahr amortisiert werden.

Das Kantonsgericht hielt zudem fest, dass das URP-Gesuch erst am 2. April 2025 eingereicht wurde, während die Berufungsantwort bereits am 5. März 2025 erfolgte. Da die Beschwerdeführerin keine Rückwirkung beantragt und auch keine Gründe dafür dargelegt hatte, hätte die URP ohnehin frühestens ab dem 2. April 2025 gewährt werden können. Überdies hätte die Arbeit im Zusammenhang mit einem am 7. April 2025 gestellten Gesuch um superprovisorische Massnahmen aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten nicht entschädigt werden können. Das Kantonsgericht kam daher zum Schluss, dass die Mittellosigkeit der Beschwerdeführerin nicht gegeben sei.

3.3. Rügen und Beurteilung durch das Bundesgericht

Die Beschwerdeführerin rügte eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung hinsichtlich ihrer finanziellen Lage sowie eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 117 ff. ZPO.

  • Einkommensberechnung: Die Beschwerdeführerin kritisierte die Berücksichtigung von CHF 1'001.25 als Einkommen im Juli 2024 (Arbeitslosenentschädigung), welche ihrer Meinung nach ein Abzugsposten gewesen sei. Sie argumentierte, ihr durchschnittliches Einkommen sei tiefer (CHF 4'447.10) und ihr Budget somit defizitär. Das Bundesgericht verneinte Willkür. Es obliege der Beschwerdeführerin, in ihrem URP-Gesuch zu erklären und zu belegen, dass dieser Betrag einen Abzug darstelle, was sie nicht getan habe. Somit sei sie vor Bundesgericht damit präkludiert. Das Bundesgericht sah auch keine Widersprüche in den kantonalen Erwägungen, da das Kantonsgericht letztlich den vom erstinstanzlichen Richter festgestellten Einkommensbetrag von CHF 5'275.55 bestätigt hatte.
  • Lastenberechnung: Die Beschwerdeführerin machte zusätzliche Lasten wie höhere Haushalts-Haftpflichtversicherungsprämien, Web-Kaution, Transport- und Essenskosten geltend, welche die Vorinstanz nicht oder nicht in vollem Umfang berücksichtigt hatte. Das Bundesgericht hielt fest, dass blosse Behauptungen nicht ausreichen; die Existenz, Aktualität und tatsächliche Zahlung dieser Lasten müsse bewiesen werden. Es obliegt dem Bundesgericht nicht, im kantonalen Dossier nach Beweisen zu suchen. Die Rügen waren daher appellatorisch und ungenügend begründet.
  • Mittellosigkeit und Amortisationsfähigkeit: Das Bundesgericht bestätigte, dass das Kantonsgericht ohne Willkür einen positiven monatlichen Saldo von rund CHF 790.- festgestellt hatte. Angesichts dieses Betrags sei es nicht unhaltbar, von der Beschwerdeführerin zu erwarten, dass sie ihre Gerichts- und Anwaltskosten innerhalb eines Jahres amortisieren könne.
  • Rückwirkung der URP: Die Beschwerdeführerin argumentierte, die URP hätte rückwirkend ab dem 20. Januar 2025 gewährt werden müssen. Das Bundesgericht wies dies mit der Begründung ab, dass die Vorinstanz die fehlende Rückwirkung als zusätzliches (überflüssiges) Argument vorgebracht habe. Die Beschwerdeführerin hatte weder die Dringlichkeit für eine rückwirkende Gewährung (eine notwendige Voraussetzung für Ausnahmen von der Prospektivität) noch die Aussichtslosigkeit der superprovisorischen Massnahmen in ihren Rügen hinreichend widerlegt. Die Begründung der Beschwerdeführerin war diesbezüglich unzureichend (Art. 42 Abs. 2 BGG).
4. Ergebnis

Das Bundesgericht erachtete die Beschwerde als unbegründet und wies sie, soweit zulässig, ab. Da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war, wurde auch das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren gemäss Art. 64 Abs. 1 BGG abgewiesen. Die Gerichtskosten für das Bundesverfahren von CHF 1'500.- wurden der Beschwerdeführerin auferlegt. Es wurden keine Parteientschädigungen gesprochen.

III. Querverweise und Bedeutung im Kontext

Das Urteil reiht sich in die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichts zur unentgeltlichen Rechtspflege ein und bestätigt wesentliche Grundsätze:

  • Betreibungsrechtliches Existenzminimum plus 25%: Die konsequente Anwendung dieses Richtwerts für die Bemessung des notwendigen Lebensunterhalts in URP-Verfahren ist ein wiederkehrendes Element. Das Bundesgericht betont aber auch, dass dies keine starre Regel ist, sondern individuelle Verhältnisse zu berücksichtigen sind (vgl. auch ATF 135 I 221).
  • Beweislast des Gesuchstellers: Die Notwendigkeit der vollständigen und belegten Darlegung der finanziellen Verhältnisse ist zentral. Ohne genaue Angaben und Belege (insbesondere für Lasten wie Miete, Versicherungen, etc.) lehnt das Bundesgericht Rügen als appellatorisch ab und bestätigt die Praxis, dass Gerichte nicht von Amtes wegen den Sachverhalt umfassend erforschen müssen, wenn die Partei ihrer Substantiierungspflicht nicht nachkommt (vgl. ATF 125 IV 161).
  • Amortisationsfähigkeit: Die Amortisationsfrist von ein bis zwei Jahren ist ein wichtiges Kriterium zur Abgrenzung von Mittellosigkeit. Ein positiver monatlicher Saldo, der die Deckung der Kosten in diesem Zeitraum erlaubt, schliesst die Mittellosigkeit aus (vgl. ATF 141 III 369).
  • Rückwirkung der URP: Die restriktive Handhabung der Rückwirkung der URP gemäss Art. 119 Abs. 4 ZPO wird bekräftigt. Nur in ausserordentlichen Umständen – typischerweise bei einer objektiv gegebenen Dringlichkeit eines Prozessaktes, die das gleichzeitige Einreichen des URP-Gesuchs verunmöglicht – ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Prospektivität gerechtfertigt (vgl. ATF 122 I 203). Das Vorliegen blosser finanzieller Veränderungen oder mangelnder Information durch die Partei genügt nicht. Die fehlende Begründung der Dringlichkeit im URP-Gesuch selbst ist ein entscheidender Faktor.
  • Willkür bei Sachverhaltsfeststellung: Die Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung erfordert eine präzise und detaillierte Auseinandersetzung mit der Begründung der Vorinstanz. Allgemeine Behauptungen oder das einfache Präsentieren eines anderen Rechenmodells genügen nicht den Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG.

Das Urteil unterstreicht die hohen Anforderungen an die Substantiierungspflicht der Parteien, insbesondere bei der Geltendmachung von Mittellosigkeit, und die restriktive Praxis bei der rückwirkenden Gewährung der URP, was für Prozessparteien und deren Vertretung von grosser praktischer Bedeutung ist.

IV. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  • Verweigerung der URP ist Endentscheid: Der Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege ist ein Endentscheid und direkt anfechtbar.
  • Mittellosigkeit nicht nachgewiesen: Das Bundesgericht bestätigte, dass die Beschwerdeführerin ihre Mittellosigkeit nicht nachweisen konnte, da sie einen monatlichen Überschuss von CHF 790.- aufwies, welcher die Amortisation der Prozesskosten innerhalb eines Jahres erlaubte.
  • Beweislast für Lasten: Die Beschwerdeführerin konnte zusätzliche Lasten (z.B. höhere Versicherungs-, Transport- oder Essenskosten) nicht belegen. Bloße Behauptungen reichen nicht aus.
  • Keine Willkür bei Einkommensberechnung: Die Berücksichtigung der Arbeitslosenentschädigung als Einkommen durch die Vorinstanz war nicht willkürlich, da die Beschwerdeführerin ihren Standpunkt im URP-Gesuch nicht hinreichend begründet hatte.
  • Restriktive Rückwirkung der URP: Ein rückwirkendes Inkrafttreten der URP wird nur in engen Ausnahmefällen gewährt, typischerweise bei Dringlichkeit einer Prozesshandlung. Im vorliegenden Fall fehlte es an einer solchen Dringlichkeit oder deren Begründung durch die Beschwerdeführerin.
  • Aussichtslosigkeit der Beschwerde: Aufgrund der fehlenden Erfolgsaussichten der Beschwerde wurde auch das Gesuch um URP für das Verfahren vor Bundesgericht abgewiesen.