Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_738/2025 vom 12. November 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgerichtsurteil 6B_738/2025 vom 12. November 2025

1. Einleitung Das Bundesgericht hatte sich in diesem Fall mit der Frage der Anrechnung der Dauer einer jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahme (Platzierung in einer geschlossenen Einrichtung gemäss Art. 32 Abs. 3 des Bundesgesetzes über das Jugendstrafrecht [JStG]) sowie einer Auslieferungshaft (gemäss Art. 51 StGB) auf eine Freiheitsstrafe zu befassen. Der Beschwerdeführer A.__, geboren 2006, legte Beschwerde gegen ein Urteil des Kantonalen Appellationsgerichts des Kantons Waadt ein, welches seine Beschwerde gegen ein Urteil des Jugendgerichts vom 31. Januar 2025 abgewiesen hatte.

2. Sachverhalt und Vorinstanzliches Urteil A.__ wurde vom Jugendgericht des Kantons Waadt am 31. Januar 2025 wegen Rauberpressung (begangen am 10. Dezember 2022) zu einer Freiheitsstrafe von 210 Tagen verurteilt. Diese Strafe wurde als Zusatzstrafe zu früheren Urteilen vom 23. Mai 2023 und 11. Juli 2023 ausgesprochen. Das Jugendgericht rechnete einen Teil der in Frankreich im Rahmen des Auslieferungsverfahrens erlittenen Haft auf die 210 Tage Freiheitsstrafe an.

Die Vorgeschichte des Beschwerdeführers ist geprägt von mehrfachen Verurteilungen, Massnahmen der Jugendhilfe und Unterbringungen in der geschlossenen Einrichtung U._, aus der er wiederholt geflohen war. Am 1. September 2022 wurde er provisorisch in U._ platziert. Nach einer Flucht am 4. Dezember 2022 beging er am 10. Dezember 2022 die Rauberpressung. Nach erneuter Flucht am 3. Februar 2024 wurde er am 3. April 2024 in Frankreich verhaftet und bis zum 27. November 2024 in Auslieferungshaft gehalten, bevor er in die Schweiz zurückgeführt wurde.

Das Jugendgericht hatte die 210-tägige Freiheitsstrafe mit einem Teil der Auslieferungshaft in Frankreich vollständig kompensiert. Es lehnte eine Anrechnung der Dauer der Platzierung in U.__ ab, da diese Massnahme nicht gemeinsam mit der nun zu beurteilenden 210-Tage-Strafe angeordnet worden war, sondern mit der früheren 240-Tage-Freiheitsstrafe vom 11. Juli 2023. Das Appellationsgericht des Kantons Waadt bestätigte diese Sichtweise.

3. Rechtliche Problematik und Massgebende Rechtsgrundlagen

Die zentrale Frage in der Beschwerde war, ob die Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer geschlossenen Einrichtung (gemäss Art. 32 JStG) sowie die in Frankreich erlittene Auslieferungshaft (gemäss Art. 51 StGB) auf die ihm auferlegte 210-tägige Freiheitsstrafe anzurechnen seien.

a) Anrechnung der Dauer einer jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahme (Art. 32 JStG) * Art. 19 Abs. 1 JStG: Die Vollzugsbehörde prüft jährlich, ob und wann die Massnahme aufgehoben werden kann. Sie hebt die Massnahme auf, wenn ihr Ziel erreicht ist oder feststeht, dass sie keine erzieherische oder therapeutische Wirkung mehr hat. * Art. 32 Abs. 2 JStG: Wird die Platzierung aufgehoben, weil ihr Ziel erreicht ist, so wird die Freiheitsentziehung nicht mehr vollzogen. * Art. 32 Abs. 3 JStG: Wird die Platzierung aus einem anderen Grund aufgehoben, so entscheidet die Gerichtsbehörde, ob und in welchem Umfang die Freiheitsentziehung vollzogen werden muss. In diesem Fall wird die Dauer der Platzierung auf die Freiheitsentziehung angerechnet. Diese Norm gilt gemäss konstanter Rechtsprechung (BGE 142 IV 359 E. 2; 137 IV 7 E. 1.6.2) auch für eine provisorisch angeordnete Platzierung. * Art. 53 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum JStG des Kantons Waadt (LVPPMin/VD): Die Kompetenz zur Aufhebung einer Schutzmassnahme liegt beim Jugendrichter. * Grundsatz der Spezialität: Die Freiheitsentziehung im Rahmen einer Massnahme (Art. 32 JStG) stellt keine Untersuchungshaft im Sinne von Art. 51 StGB dar (BGE 148 IV 419 E. 1.6.5).

b) Anrechnung der Auslieferungshaft (Art. 51 StGB) * Art. 1 Abs. 2 lit. b JStG: Für die Strafzumessung sind die Art. 47, 48 und 51 StGB sinngemäss anwendbar. * Art. 51 Satz 1 StGB: Der Richter rechnet dem Täter die Untersuchungshaft, die dieser im Rahmen der gerade beurteilten oder einer anderen Verfahren erlitten hat, auf die Strafe an. * Definition Untersuchungshaft: Gemäss Art. 110 Abs. 7 StGB ist Untersuchungshaft die Haft, die im Laufe eines Strafverfahrens zur Erforschung des Sachverhalts, aus Sicherungsgründen oder im Hinblick auf die Auslieferung angeordnet wird. * Rechtsprechung zur Anrechnung der Untersuchungshaft: Untersuchungshaft ist grundsätzlich auch dann anzurechnen, wenn sie aus einem früheren Verfahren stammt (BGE 141 IV 236 E. 3.3; 133 IV 150 E. 5.1). Aus Praktikabilitätsgründen soll ein Gericht jedoch keine Untersuchungshaft aus einem noch laufenden und später zu beurteilenden anderen Strafverfahren berücksichtigen. Die Anrechnung obliegt der Strafbehörde, die das Urteil im zweiten Verfahren fällt (Urteil 6B_1232/2016 vom 3. Februar 2017 E. 1.4).

4. Begründung des Bundesgerichts

a) Zur Anrechnung der Dauer der Massnahme (Art. 32 JStG) Der Beschwerdeführer machte geltend, das Jugendgericht hätte die Dauer seiner Platzierung in U.__ auf die 210-tägige Freiheitsstrafe anrechnen müssen. Er argumentierte, diese Strafe sei komplementär zur Strafe vom 11. Juli 2023, welche gemeinsam mit der Massnahme angeordnet worden sei. Zudem sei die Platzierung mittels Verfügung vom 19. Februar 2025 mit Wirkung zum 30. Januar 2025, also einen Tag vor der Urteilsverhandlung, aufgehoben worden.

Das Bundesgericht weist diese Argumentation zurück: * Zeitpunkt der Aufhebung: Die Verfügung der Jugendgerichtspräsidentin zur Beendigung der Platzierung datiert vom 19. Februar 2025 und ist somit nach dem Urteil des Jugendgerichts vom 31. Januar 2025 ergangen. Die Rückwirkung auf den 30. Januar 2025 ändert nichts daran, dass zum Zeitpunkt der Urteilsfällung die Massnahme formell noch nicht aufgehoben war. * Kompetenz: Das Jugendgericht, welches über die am 10. Dezember 2022 begangenen Straftaten urteilte, war nicht zuständig, die am 11. Juli 2023 angeordnete Massnahme aufzuheben oder deren Dauer auf die Freiheitsstrafe anzurechnen. Die Beendigung von Schutzmassnahmen obliegt gemäss Art. 19 JStG und Art. 53 Abs. 1 LVPPMin/VD dem Jugendrichter. Die Frage der Anrechnung nach Art. 32 Abs. 3 JStG obliegt dann der Gerichtsbehörde, die die Freiheitsentziehung im Rahmen dieser spezifischen Massnahme zu beurteilen hat. Hier war dies die Gerichtsbehörde, die die 240-tägige Freiheitsstrafe vom 11. Juli 2023 erlassen hatte. Im vorliegenden Verfahren bestand kein Konkurrenzverhältnis zwischen einer Schutzmassnahme und der im aktuellen Urteil festgesetzten Freiheitsstrafe. * Natur der Freiheitsentziehung: Das Bundesgericht bekräftigt, dass die Freiheitsentziehung im Rahmen einer Platzierung (auch provisorischer Art) keine Untersuchungshaft im Sinne von Art. 51 StGB und Art. 110 Abs. 7 StGB darstellt (Verweis auf BGE 148 IV 419 E. 1.6.5). Daher ist eine Anrechnung über Art. 51 StGB ausgeschlossen.

b) Zur Anrechnung der Auslieferungshaft (Art. 51 StGB) Der Beschwerdeführer rügte weiter, dass die vom 3. April bis 26. November 2024 in Frankreich erlittene Auslieferungshaft nicht auf die 210-tägige Freiheitsstrafe hätte angerechnet werden dürfen. Er argumentierte, diese Haft sei ausschliesslich aufgrund eines Haftbefehls der Walliser Staatsanwaltschaft im Rahmen eines anderen Verfahrens (MPC 24 586) erfolgt, welches Straftaten nach seiner Mündigkeit betraf und noch nicht abgeschlossen sei.

Das Bundesgericht verwarf auch diesen Einwand: * Doppelte Grundlage der Haft: Das Bundesgericht stellte (gestützt auf Art. 105 Abs. 2 BGG) fest, dass gegen den Beschwerdeführer zwei internationale Haftbefehle erlassen worden waren: einer der Walliser Staatsanwaltschaft (im Rahmen von MPC 24 586) und einer des Jugendgerichts des Kantons Waadt im Rahmen der vorliegenden Verfahrens (PM22.023797). * Da die Auslieferungshaft somit nicht ausschliesslich, sondern auch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens erfolgte, war die Anrechnung der gesamten Dauer der Auslieferungshaft auf die 210-tägige Freiheitsstrafe gemäss Art. 51 StGB rechtmässig. Die Vorinstanz hat insoweit kein Bundesrecht verletzt.

5. Schlussfolgerung des Bundesgerichts Das Bundesgericht weist die Beschwerde in allen zulässigen Teilen ab. Da die Beschwerde als aussichtslos beurteilt wurde, wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen und die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer auferlegt, wobei deren Höhe seiner finanziellen Situation angepasst wird.

Zusammenfassende wesentliche Punkte:

  • Trennung von Massnahme und Strafe: Das Bundesgericht bestätigt die strikte Trennung zwischen jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen (Art. 32 JStG) und Freiheitsstrafen. Eine Platzierung gilt nicht als Untersuchungshaft im Sinne von Art. 51 StGB.
  • Kompetenz und Zeitpunkt der Anrechnung: Die Entscheidung über die Anrechnung der Dauer einer Massnahme auf eine Freiheitsentziehung obliegt der spezifisch zuständigen Gerichtsbehörde, die die Massnahme oder die mit ihr verbundene Strafe angeordnet hat. Eine Anrechnung der Massnahme durch ein Gericht, das über andere Taten befindet, ist nur möglich, wenn die Massnahme gemeinsam mit der zu beurteilenden Strafe angeordnet wurde oder die Massnahme zum Zeitpunkt des Urteils bereits formell und endgültig aufgehoben war.
  • Auslieferungshaft bei Mehrfachhaftbefehlen: Die Anrechnung von Auslieferungshaft gemäss Art. 51 StGB ist korrekt, wenn die Haft (auch) im Rahmen des gerade beurteilten Verfahrens erfolgte, selbst wenn gleichzeitig weitere Verfahren und Haftbefehle bestanden. Das Vorliegen eines relevanten Haftbefehls im vorliegenden Fall legitimierte die Anrechnung.