Im Folgenden wird das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_569/2025 vom 9. Oktober 2025 detailliert zusammengefasst.
Parteien und Gegenstand
- Beschwerdeführer: A.__
- Beschwerdegegner: Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, B._, C._
- Gegenstand: Mehrfacher versuchter Mord, Strafzumessung, Widerruf der bedingten Geldstrafe und Landesverweisung.
- Angefochtenes Urteil: Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 15. Januar 2025.
Sachverhalt (gemäss Feststellungen der Vorinstanz)
Der Beschwerdeführer A._, stellvertretender Geschäftsführer eines Restaurants, hatte am 23. Mai 2021 eine Auseinandersetzung mit C._ und B._, nachdem es bereits zuvor zu Konflikten gekommen war (Hinweis auf Maskenpflicht, Platzverweis, Beschwerde der Geschädigten beim Vorgesetzten). A._ forderte C._ und B._ nach Feierabend zu einem Gespräch vor dem Restaurant auf. Er bewaffnete sich mit einer Pistole, die er am Körper versteckte.
Auf dem Garagenvorplatz des Restaurants standen sich die drei Personen gegenüber. A._ zog die Waffe hervor, machte eine Ladebewegung und beschimpfte C._ und B._. Er schoss gezielt auf C._ und traf ihn am rechten Oberschenkel. Danach zielte er auf den flüchtenden B._ und traf diesen am linken Oberschenkel. Anschliessend schoss A._ weitere fünf Mal auf die vor ihm wegrennenden und mit dem Rücken zu ihm zugewandten C._ und B._. Er bewegte sich dabei schiessend in Richtung der Flüchtenden. C.__ wurde dabei noch zweimal getroffen, einmal in den Rücken (Rumpfsteckschuss mit Schussverlauf durch Leber und Zwerchfell), was zu einer lebensgefährlichen Verletzung führte (Blut- und Luftansammlung in der rechten Brusthöhle, hämorrhagischer Schockzustand, notfallmässige Drainage und Operation). Ein weiterer Schuss beschädigte C.__s Kleidung, ohne ihn erneut körperlich zu verletzen.
Das Bezirksgericht Münchwilen verurteilte A.__ wegen mehrfachen versuchten Mordes zu 14 Jahren Freiheitsstrafe, widerrief einen bedingten Strafbefehl und verwies ihn für 15 Jahre des Landes. Das Obergericht des Kantons Thurgau bestätigte diese Punkte, erhöhte die Freiheitsstrafe jedoch auf 15 Jahre.
Anträge des Beschwerdeführers vor Bundesgericht
A.__ beantragte die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils. Er verlangte eine Verurteilung wegen qualifizierter leichter Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 StGB) und (fahrlässiger) schwerer Körperverletzung (Art. 122 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von höchstens 36 Monaten. Eventualiter forderte er eine Verurteilung wegen qualifizierter leichter Körperverletzung und versuchter eventualvorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von höchstens 60 Monaten. Weiter beantragte er, vom Widerruf der bedingten Geldstrafe und von der Landesverweisung abzusehen, eventualiter eine Landesverweisung von maximal sieben Jahren.
Wesentliche Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüfte die Beschwerde in Strafsachen (Art. 80 Abs. 1 BGG) und wies diese ab, soweit es darauf eintrat.
-
Prozessuale Rügen (Zulässigkeit von Noven und Beweiswürdigung)
- Novenrügen (E. 1): Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Rechts auf ein faires Verfahren aufgrund der verspäteten Aktenzustellung an seinen neuen Rechtsvertreter. Das Bundesgericht hielt fest, dass es sich hierbei um "echte Noven" (Tatsachen, die sich erst nach dem angefochtenen Entscheid ereigneten) handelt, welche gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG unzulässig sind. Auch der Antrag auf Auswertung der Mobiltelefone der Beschwerdegegner wurde als unzulässiges Novum abgewiesen, da er nicht im kantonalen Verfahren gestellt oder begründet wurde.
- Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (E. 2):
- Ausschöpfung des Instanzenzuges (E. 2.3 f.): Der Beschwerdeführer machte geltend, die Vorinstanz habe sich auf unverwertbare Beweise gestützt (verspätete Bestellung der notwendigen Verteidigung, Verletzung der Teilnahmerechte und des Konfrontationsrechts, fehlerhafte Gutachten). Das Bundesgericht wies diese Rügen ab, da sie erstmals vor Bundesgericht erhoben wurden und der Beschwerdeführer damit den kantonalen Instanzenzug nicht ausgeschöpft hatte (Art. 80 Abs. 1 BGG). Es fehle zudem an tatsächlichen Feststellungen im vorinstanzlichen Urteil, die eine Überprüfung dieser neuen Rügen ermöglichen würden. Das Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung (Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK) sei nicht verletzt, wenn der frühere Verteidiger es versäumte, diese Rügen rechtzeitig zu erheben.
- Erneute Einvernahme der Beschwerdegegner (E. 2.6): Der Beschwerdeführer verlangte eine erneute Einvernahme der Beschwerdegegner 2 und 3 wegen angeblicher Widersprüche und einer "Aussage gegen Aussage"-Konstellation. Das Bundesgericht verneinte die Notwendigkeit gemäss Art. 343 Abs. 3 StPO. Es sei nicht von einer reinen "Aussage gegen Aussage"-Konstellation auszugehen, da weitere Beweismittel vorlägen. Die Vorinstanz habe die Aussagen der Beschwerdegegner als stimmig und konstant befunden, abgesehen von kleineren Unstimmigkeiten in Nebensächlichkeiten, die die Glaubhaftigkeit des Kerngeschehens nicht beeinträchtigten. Das Ermessen der Vorinstanz sei nicht überschritten worden.
- Willkür bei Sachverhaltsfeststellung (E. 2.7): Der Beschwerdeführer rügte eine willkürliche und aktenwidrige Sachverhaltsfeststellung sowie eine methodisch falsche Aussageanalyse. Das Bundesgericht trat auf diese appellatorische Kritik nicht ein, da der Beschwerdeführer nicht darlegte, inwiefern die Beweiswürdigung der Vorinstanz schlechterdings unhaltbar sei (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Vorinstanz habe eine eingehende und nachvollziehbare Gesamtwürdigung der Beweismittel vorgenommen.
- Ablehnung Tatortrekonstruktion (E. 2.8): Die Rüge der willkürlichen Ablehnung einer Tatortrekonstruktion wurde ebenfalls abgewiesen. Die Vorinstanz habe ihr Ermessen (Art. 139 Abs. 2 StPO, antizipierte Beweiswürdigung) nicht verletzt, da sie das Vorbringen des Beschwerdeführers als unerheblich für die Feststellung des Sachverhalts erachtete.
- In dubio pro reo (E. 2.9): Der Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweislastregel sei nicht verletzt. Die Vorinstanz habe den Beschwerdeführer aufgrund einer willkürfreien Würdigung der Beweise verurteilt, nicht weil ihm der Beweis seiner Unschuld misslungen sei.
-
Materiellrechtliche Qualifikation (Eventualvorsatz und Mord)
- Eventualvorsatz (E. 3): Der Beschwerdeführer bestritt einen Tötungsvorsatz und argumentierte, die Vorinstanz habe ausschliesslich auf das Wissenselement abgestellt. Das Bundesgericht bestätigte die Bejahung des Eventualvorsatzes (Art. 12 Abs. 2 StGB). Es betonte, dass der eventualvorsätzlich Handelnde den Eintritt des als möglich erkannten Erfolgs ernst nimmt und sich mit ihm abfindet. Die Vorinstanz habe die Umstände korrekt gewürdigt: Sieben Schüsse mit einer Pistole, zunächst auf die Oberschenkel, dann aber weitere fünf Schüsse auf die flüchtenden und in Bewegung befindlichen Personen, wobei mindestens zwei Schüsse auf Höhe des Oberkörpers (einer in den Rücken von C._, durch Leber und Zwerchfell) erfolgten. Angesichts des dynamischen Tatgeschehens sei der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen, die Lokalisierung seiner Schüsse zu kontrollieren. Die Lebensgefährlichkeit der Verletzung von C._ und dessen Überleben sei ausschliesslich dem Zufall und der rechtzeitigen Hilfe zu verdanken. Das Verhalten des Beschwerdeführers könne vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Todes gedeutet werden, zumal er das Risiko in keiner Weise kalkulieren und dosieren konnte.
- Mordqualifikation (E. 4): Der Beschwerdeführer argumentierte, der Mordtatbestand (Art. 112 StGB) sei restriktiv anzuwenden, und ein eventualvorsätzliches Handeln genüge nur bei äusseren Mordmerkmalen. Das Bundesgericht bestätigte die Mordqualifikation wegen "besonderer Skrupellosigkeit". Es stellte fest, dass die Vorinstanz die Tat als Ganzes gewürdigt habe. Der Beweggrund des Beschwerdeführers sei Rache für verletzten Stolz und Ansehensverlust aufgrund einer Beschwerde beim Vorgesetzten gewesen. Dieses Motiv sei nicht einfühlbar und offenbare eine aussergewöhnlich krasse Geringschätzung menschlichen Lebens. Die Tat sei aus nichtigem Anlass und purem Egoismus erfolgt. Das Vorgehen des Beschwerdeführers zeuge von mangelnder Skrupel und grosser Entschlossenheit, da er nach den ersten beiden Schüssen mit weiteren Schüssen nachgedoppelt habe. Die ständige bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach die eventualvorsätzliche Tatbegehung die Mordqualifikation nicht ausschliesst, wurde bekräftigt.
-
Strafzumessung (E. 5)
- Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung der Begründungspflicht (Art. 50 StGB), eine Doppelverwertung tatbestandsbegründender Merkmale und das Ignorieren strafmildernder Kriterien.
- Das Bundesgericht befand die Strafzumessung der Vorinstanz als ausreichend begründet und im Rahmen des Ermessens liegend. Die Vorinstanz sei von einem mittelschweren Verschulden ausgegangen und habe die Einsatzstrafe für den Mord an C.__ auf 15 Jahre festgelegt. Dabei habe sie keine tatbestandsbegründenden Merkmale doppelt verwertet.
- Die Reduktion der Strafe um 2.5 Jahre wegen des Versuchs sei angesichts des vollendeten Versuchs (alle zur Tötung notwendigen Handlungen ausgeführt) und der Lebensgefährlichkeit der Verletzung von C.__ (Überleben nur durch Zufall und Dritthilfe) verhältnismässig.
- Das Geständnis und das sich freiwillige Stellen des Beschwerdeführers nach siebenmonatiger Flucht wurden von der Vorinstanz nicht strafmindernd berücksichtigt, da es an glaubhafter Reue und Einsicht fehlte und seine Aussagen nicht massgeblich zur Wahrheitsfindung beigetragen hatten. Dies wurde vom Bundesgericht als zulässig erachtet.
-
Widerruf der bedingten Geldstrafe (E. 6)
- Der Beschwerdeführer wandte sich gegen den Widerruf des bedingten Vollzugs einer früheren Geldstrafe. Er machte geltend, die Vorinstanz habe nicht alle prognoserelevanten Umstände gewürdigt.
- Das Bundesgericht bestätigte den Widerruf gemäss Art. 46 Abs. 1 StGB. Die Vorinstanz habe zu Recht eine "Schlechtprognose" gestellt. Die erneuten äusserst schweren Delikte während der Probezeit, die Vorstrafen und die mangelnde Einsicht des Beschwerdeführers begründeten die Erwartung weiterer Straftaten. Die Warnwirkung der neuen, hohen Freiheitsstrafe und das vorbildliche Vollzugsverhalten allein genügten nicht, um die ungünstige Prognose zu revidieren, insbesondere da das Wohlverhalten in Haft für die bedingte Entlassung relevanter sei (Art. 86 StGB).
-
Landesverweisung (E. 7)
- Die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Landesverweisung bezogen sich lediglich auf einen Freispruch oder einen unbegründeten Eventualantrag (max. sieben Jahre Landesverweisung). Darauf wurde mangels Substantiierung nicht eingetreten.
Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wurde gutgeheissen, da die Rechtsbegehren nicht von vornherein aussichtslos waren und Bedürftigkeit vorlag. Es wurden keine Gerichtskosten erhoben, und der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wurde entschädigt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Schuldspruch: Die Verurteilung wegen mehrfachen versuchten Mordes wurde bestätigt.
- Eventualvorsatz: Der Tötungsvorsatz wurde vom Bundesgericht als eventualvorsätzlich bejaht, da der Beschwerdeführer angesichts der multiplen Schüsse in einer dynamischen Situation und der lebensgefährlichen Verletzung eines Opfers den Tod billigend in Kauf genommen hatte.
- Mordqualifikation: Die "besondere Skrupellosigkeit" gemäss Art. 112 StGB wurde bestätigt. Massgebend waren das Rachemotiv, der nichtige Anlass der Tat und die äusserst verwerfliche Tatausführung, wobei auch eventualvorsätzliches Handeln die Mordqualifikation nicht ausschliesst.
- Strafzumessung: Die Freiheitsstrafe von 15 Jahren wurde als bundesrechtskonform befunden. Die Reduktion für den Versuch war aufgrund der hohen Nähe zum Tötungserfolg und der Schwere der Verletzungen begrenzt. Mangelnde Reue und Kooperation wurden korrekt berücksichtigt.
- Widerruf der bedingten Strafe: Der Widerruf einer früheren bedingten Geldstrafe wurde aufgrund einer negativen Legalprognose, basierend auf der erneuten schweren Straffälligkeit, früheren Vorstrafen und fehlender Einsicht, bestätigt.
- Prozessuale Fragen: Diverse Rügen zur Beweiswürdigung und zu Verfahrensfehlern wurden mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges oder mangelnder Substantiierung abgewiesen.