Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:
Bundesgerichtsurteil 5A_90/2025 vom 16. Oktober 2025
Parteien:
* Beschwerdeführerin: A._ G.m.b.H (Gläubigerin im Konkursverfahren der B._ AG in Liquidation)
* Beschwerdegegner: Konkursamt Aargau (vertreten durch Rechtsanwalt)
Gegenstand:
Konkursverfahren, Konkurswiderruf. Beschwerde in Zivilsachen gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Schuldbetreibungs- und Konkurskommission als einzige kantonale Aufsichtsbehörde über das Konkursamt.
I. Sachverhalt und Vorinstanzenentscheide (relevant für die rechtliche Beurteilung):
- Auflösung der Gesellschaft durch Handelsgericht: Am 20. Mai 2021 löste das Handelsgericht des Kantons Aargau die B.__ AG (nachfolgend: Gemeinschuldnerin) gestützt auf Art. 731b Abs. 1bis Ziff. 3 OR wegen eines Organisationsmangels auf und ordnete die Liquidation nach den Vorschriften des Konkurses an.
- Konkurseröffnung durch Bezirksgericht: Am 15. Juni 2021 eröffnete das Bezirksgericht Zofingen gestützt auf eine Konkursbetreibung den Konkurs über die Gemeinschuldnerin.
- Gesuch der Beschwerdeführerin um Konkurswiderruf und "ordentlichen Abschluss": Die A.__ G.m.b.H, als Gläubigerin, meldete eine grundpfandgesicherte Forderung an und überwies später dem Konkursamt Fr. 1'320'000 zur Bezahlung kollozierter Forderungen. Sie beantragte den Widerruf des Konkurses bzw. den "ordentlichen Abschluss" des Konkursverfahrens.
- Verfügung des Konkursamtes: Am 3. Mai 2024 stellte das Konkursamt Aargau fest, dass die Voraussetzungen für einen Konkurswiderruf und einen "ordentlichen Abschluss" nicht gegeben seien, verfügte die Weiterführung des Verfahrens und die Verwertung einer Liegenschaft.
- Entscheid des Obergerichts (Kantonale Aufsichtsbehörde): Am 8. Januar 2025 erklärte das Obergericht Dispositiv-Ziff. 1 des Entscheids des Bezirksgerichts Zofingen vom 15. Juni 2021 (Konkurseröffnung) als nichtig. Es wies die Beschwerde der A.__ G.m.b.H im Übrigen ab und ersetzte die konkursamtliche Feststellung bezüglich des Konkurswiderrufs durch ein Nichteintreten auf das Gesuch der Beschwerdeführerin. Das Obergericht begründete die Nichtigkeit der Konkurseröffnung damit, dass der Auflösungsentscheid des Handelsgerichts vom 20. Mai 2021, da keine Beschwerde in Zivilsachen erhoben wurde, "sofort wirksam" geworden sei und somit die Konkurseröffnung vom 15. Juni 2021 obsolet gemacht habe.
II. Massgebende Rechtsfragen und Argumente des Bundesgerichts:
Das Bundesgericht befasste sich primär mit der Frage des Verhältnisses der beiden Konkurseröffnungsakte und deren zeitlicher Wirksamkeit sowie mit den weiteren Begehren der Beschwerdeführerin.
-
Verhältnis von Auflösungsentscheid (Art. 731b OR) und Konkurseröffnung (SchKG):
- Problemstellung: Das Obergericht ging davon aus, der Auflösungsentscheid des Handelsgerichts vom 20. Mai 2021 sei "sofort wirksam" geworden, da keine Beschwerde in Zivilsachen erhoben wurde. Folglich sei die nachfolgende Konkurseröffnung durch das Bezirksgericht vom 15. Juni 2021 nichtig. Die Beschwerdeführerin forderte demgegenüber die Feststellung der Rechtskraft der Konkurseröffnung vom 15. Juni 2021 und machte geltend, der Auflösungsentscheid sei ein Gestaltungsurteil, das erst nach unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist wirksam werde.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts:
- Einmaligkeitsgrundsatz: Das Bundesgericht bestätigte in analoger Anwendung von Art. 55 SchKG, dass ein Konkurs nur einmal eröffnet werden kann. Massgebend ist das Urteil, das zuerst rechtskräftig geworden ist.
- Charakter des Auflösungsentscheids: Das Bundesgericht hielt fest, dass der Auflösungsentscheid gemäss Art. 731b Abs. 1bis Ziff. 3 OR ein Gestaltungsurteil darstellt. Solche Urteile entfalten ihre Wirkung mit der Rechtskraft ex nunc.
- Aufschiebende Wirkung von Gestaltungsurteilen: Entgegen der allgemeinen Regel, dass die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht die formelle Rechtskraft nicht aufschiebt (Art. 103 Abs. 1 BGG), hat die Beschwerde in Zivilsachen bei Gestaltungsurteilen (wie Auflösung einer juristischen Person oder Scheidung) von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung (Art. 103 Abs. 2 lit. a BGG). Dies bedeutet, dass ein Gestaltungsurteil der kantonalen Instanz erst nach unbenutztem Ablauf der Frist zur Beschwerde in Zivilsachen (30 Tage) in formelle Rechtskraft erwächst.
- Zeitliche Abfolge im vorliegenden Fall:
- Der Auflösungsentscheid des Handelsgerichts vom 20. Mai 2021 konnte somit frühestens nach dem 20. Juni 2021 (d.h. nicht vor dem 21. Juni 2021) rechtskräftig werden. Das Handelsgericht selbst bestätigte die Rechtskraft gegenüber dem Konkursamt per 22. Juni 2021.
- Die Konkurseröffnung durch das Bezirksgericht Zofingen vom 15. Juni 2021 hingegen wurde an diesem Datum wirksam (Art. 175 SchKG i.V.m. Art. 325 Abs. 1 ZPO), auch wenn dagegen Beschwerde erhoben wurde, da diese mangels aufschiebender Wirkung die Wirksamkeit nicht hemmte und später auf sie nicht eingetreten wurde.
- Fazit zur Konkurseröffnung: Da die Konkurseröffnung durch das Bezirksgericht am 15. Juni 2021 und somit vor der Rechtskraft des Auflösungsentscheides vom 20. Mai 2021 wirksam wurde, ist der Konkurs aufgrund der Konkursbetreibung nach SchKG als die massgebende Auslösung des Konkursverfahrens anzusehen. Der Auflösungsentscheid des Handelsgerichts ist in diesem Kontext als unwirksam zu betrachten.
- Entscheid des Bundesgerichts: Die Beschwerde ist in diesem Punkt begründet. Die Dispositiv-Ziff. 1 des obergerichtlichen Entscheides, welche die Konkurseröffnung des Bezirksgerichts als nichtig feststellte, wurde aufgehoben.
-
Antrag auf Konkurswiderruf (Art. 195 SchKG):
- Die Beschwerdeführerin hatte beim Konkursamt den Widerruf des Konkurses beantragt. Das Obergericht hatte die diesbezügliche Feststellung des Konkursamtes durch ein Nichteintreten auf das Gesuch ersetzt, mit der Begründung, der Beschwerdeführerin fehle das Rechtsschutzinteresse und das Konkursgericht sei zuständig.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte, dass das Antragsrecht für einen Konkurswiderruf (ausser in einer hier nicht relevanten Ausnahme) dem Schuldner und nicht dem Gläubiger zusteht. Zudem ist für den Widerruf das Konkursgericht zuständig, nicht das Konkursamt. Das Nichteintreten des Obergerichts auf den Antrag der Beschwerdeführerin war somit im Ergebnis korrekt.
- Entscheid des Bundesgerichts: Die Beschwerde in diesem Punkt wurde abgewiesen.
-
Antrag auf "ordentlichen Abschluss" des Konkursverfahrens bei Aktivenüberschuss:
- Die Beschwerdeführerin forderte aufgrund einer mutmasslichen vollständigen Befriedigung der Gläubiger (aufgrund ihrer eigenen Zahlung) die Einstellung der Verwertung und die Herausgabe der verbleibenden Aktiven (insbesondere der Liegenschaft) in natura an die Gemeinschuldnerin.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte fest, dass Gläubiger, die im Konkurs vollständig befriedigt werden, kein praktisches und aktuelles Interesse daran haben, Vollstreckungsverfügungen anzufechten, die die Rechte der Gemeinschuldnerin betreffen. Die Beschwerdeführerin machte hier ausschliesslich Interessen der Gemeinschuldnerin geltend, ohne ein eigenes, rechtlich geschütztes Interesse darzulegen.
- Entscheid des Bundesgerichts: Auf diesen Teil der Beschwerde konnte nicht eingetreten werden.
-
Verwertung der Liegenschaft (Freihandverkauf):
- Die Beschwerdeführerin verlangte die Zuweisung der Liegenschaft an sich selbst zu einem leicht höheren Preis als ein anderes Angebot oder eine Veräusserung zu einem "marktkonformen Preis", und wandte sich gegen den Freihandverkauf.
- Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts:
- Freihandverkauf als Verwertungsart: Die Gläubiger hatten im Zirkularverfahren dem Freihandverkauf zugestimmt (Art. 256 Abs. 1 SchKG). Einwendungen gegen die Verwertungsart selbst waren somit unbegründet.
- Kein Vorkaufsrecht: Art. 256 Abs. 3 SchKG erlaubt Gläubigern, höhere Angebote zu machen, gewährt aber kein Vorkaufsrecht. Die Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf eine "zwingende Zuweisung".
- Bewilligungspflicht nach BewG (Lex Koller): Das Obergericht hatte Bedenken hinsichtlich einer allfälligen Bewilligungspflicht nach dem Bundesgesetz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (BewG), da die Beschwerdeführerin eine ausländische Gesellschaft ist. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Klärung der Bewilligungspflicht Sache der zuständigen kantonalen Behörde sei. Die Anweisung des Obergerichts an das Konkursamt, diese Problematik zu klären, stelle keine anfechtbare Verfügung dar, sondern eine blosse Anweisung im Einzelfall. Die Vorbringen der Beschwerdeführerin hierzu sind unbehelflich.
- Schätzwert: Ein Schätzwert im Konkurs gibt den Gläubigern keinen Anspruch auf Erlös zum Schätzwert, sondern dient Interessenten als Anhaltspunkt für ein vertretbares Angebot. Die Forderung nach "bestmöglicher Verwertung" ist zudem widersprüchlich, wenn alle Gläubigerforderungen bereits gedeckt sind.
- Entscheid des Bundesgerichts: Die Beschwerde in diesem Punkt wurde abgewiesen.
III. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht korrigierte die Vorinstanz in der zentralen Frage der Wirksamkeit der Konkurseröffnung: Es stellte klar, dass der gerichtliche Auflösungsentscheid nach Art. 731b OR ein Gestaltungsurteil ist, welches erst nach unbenutztem Ablauf der 30-tägigen Beschwerdefrist an das Bundesgericht formell rechtskräftig wird (wegen der von Gesetzes wegen aufschiebenden Wirkung der Beschwerde in Zivilsachen bei Gestaltungsurteilen gemäss Art. 103 Abs. 2 lit. a BGG). Da im vorliegenden Fall die Konkurseröffnung durch das Bezirksgericht auf Basis einer Betreibung vor der Rechtskraft des Auflösungsentscheides wirksam wurde, ist die Konkurseröffnung nach SchKG als die massgebende und nicht nichtige anzusehen. Die Nichtigkeitserklärung des Obergerichts wurde daher aufgehoben.
Die weiteren Begehren der Beschwerdeführerin wurden jedoch abgewiesen oder es wurde darauf nicht eingetreten:
* Der Antrag auf Konkurswiderruf ist Sache des Schuldners und des Konkursgerichts, nicht des Gläubigers und des Konkursamtes.
* Für den "ordentlichen Abschluss" des Konkursverfahrens bei Aktivenüberschuss fehlt der Gläubigerin das Rechtsschutzinteresse, wenn sie selbst bereits befriedigt ist und lediglich Interessen der Gemeinschuldnerin geltend macht.
* Beim Freihandverkauf der Liegenschaft hat die Gläubigerin kein Vorkaufsrecht, die Bedenken bezüglich des BewG sind auf dem richtigen Weg zu klären, und der Schätzwert ist kein verbindlicher Mindesterlös.
IV. Urteilsdispositiv des Bundesgerichts:
- Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Dispositiv-Ziff. 1 des Entscheides des Obergerichts des Kantons Aargau vom 8. Januar 2025 (Feststellung der Nichtigkeit der Konkurseröffnung) wird aufgehoben.
- Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
- Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin (reduziert auf Fr. 3'000.--) auferlegt.
- Der Kanton Aargau hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'500.-- zu entschädigen.