Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_776/2025 vom 22. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_776/2025 vom 22. Oktober 2025

Parteien: * Beschwerdeführer: A.__ * Beschwerdegegner: Ministère public central du canton de Vaud

Gegenstand: Landesverweisung (Art. 66a StGB)

I. Sachverhalt und Vorinstanzliche Entscheide

Der Beschwerdeführer A.__, ein Staatsangehöriger von Mauritius, wurde vom Tribunal correctionnel de l'arrondissement de La Côte mit Urteil vom 18. Dezember 2024 (berichtigt am 19. Dezember 2024) unter anderem der versuchten schweren Körperverletzung (Art. 122 StGB), Tätlichkeiten, qualifizierten Drohung, versuchten qualifizierten Drohung und versuchten Nötigung für schuldig befunden. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten verurteilt, wovon 24 Monate bedingt vollzogen wurden, und einer Busse von 500 Franken. Zudem ordnete das Gericht die Landesverweisung des Beschwerdeführers für die Dauer von fünf Jahren an.

Die Cour d'appel pénale des Tribunal cantonal du canton de Vaud bestätigte dieses Urteil mit Entscheid vom 11. April 2025. Dagegen erhebt der Beschwerdeführer beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen und beantragt primär, auf seine Landesverweisung zu verzichten, subsidiär die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung.

II. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

1. Obligatorische Landesverweisung und die Härtefallklausel (Art. 66a und 66a Abs. 2 StGB)

Das Bundesgericht prüfte die Rechtmässigkeit der Landesverweisung des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung von Art. 66a Abs. 2 StGB.

1.1. Grundsätze der obligatorischen Landesverweisung (Art. 66a Abs. 1 Bst. b StGB) Gemäss Art. 66a Abs. 1 Bst. b StGB hat der Richter einen Ausländer, der unter anderem wegen schwerer Körperverletzung (Art. 122 StGB) verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der ausgesprochenen Strafe, für eine Dauer von fünf bis fünfzehn Jahren aus der Schweiz zu verweisen. Diese Bestimmung gilt auch bei Versuchstaten (Verweis auf BGE 146 IV 105 E. 3.4.1; 144 IV 168 E. 1.4.1). Da der Beschwerdeführer der versuchten schweren Körperverletzung schuldig gesprochen wurde, sind die Voraussetzungen für eine Landesverweisung gemäss Art. 66a Abs. 1 StGB grundsätzlich erfüllt.

1.2. Die Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB) Der Richter kann gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer eine schwere persönliche Härte (situation personnelle grave) bedeuten würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Ausländers, in der Schweiz zu bleiben, nicht überwiegen. Dabei ist die besondere Situation des Ausländers zu berücksichtigen, der in der Schweiz geboren ist oder aufgewachsen ist.

Diese Härtefallklausel dient der Gewährleistung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 5 Abs. 2 BV) und ist restriktiv anzuwenden (BGE 146 IV 105 E. 3.4.2; 144 IV 332 E. 3.3.1). Für die Beurteilung einer schweren persönlichen Härte sind die Kriterien des Art. 31 Abs. 1 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Ausübung einer Erwerbstätigkeit (AEV) und die dazu ergangene Rechtsprechung massgebend. Dazu gehören insbesondere die Integration des Gesuchstellers (gemäss Art. 58a Abs. 1 AIG: Respektierung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Respektierung der Verfassungswerte, Sprachkenntnisse, Teilnahme am Wirtschaftsleben, Bildung), die familiäre Situation (insbesondere Dauer und Verlauf der Schulzeit der Kinder), die finanzielle Situation, die Dauer des Aufenthalts in der Schweiz, der Gesundheitszustand sowie die Möglichkeiten der Wiedereingliederung im Herkunftsstaat. Da die Landesverweisung strafrechtlicher Natur ist, sind zusätzlich die Perspektiven der sozialen Wiedereingliederung des Verurteilten zu berücksichtigen (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1; 147 IV 453 E. 1.4.5).

1.3. Verhältnismässigkeitsprüfung (Art. 5 Abs. 2 BV und Art. 8 Abs. 2 EMRK) Wird eine schwere persönliche Härte angenommen, muss eine Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz und den öffentlichen Interessen an der Landesverweisung erfolgen. Dies erfordert eine Prüfung der Verhältnismässigkeit im Sinne von Art. 5 Abs. 2 BV und Art. 8 Abs. 2 EMRK.

  • EMRK-Kriterien für Erwachsene: Bei einem im Erwachsenenalter in die Schweiz eingereisten Ausländer sind die Art und Schwere der Straftat, die seit der Tat verstrichene Zeit, das Verhalten des Täters in dieser Zeit, die Dauer des Aufenthalts in der Schweiz sowie die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Herkunftsland zu berücksichtigen (Verweis auf EGMR E.V. c. Suisse vom 18. Mai 2021; M.M. c. Suisse vom 8. Dezember 2020).
  • EMRK-Kriterien für das Familienleben: Hinsichtlich des Familienlebens sind die Nationalität der Beteiligten, die familiäre Situation (insbesondere Dauer der Ehe, Effektivität des Familienlebens), die Kenntnis des Ehepartners von der Straftat bei Begründung der Beziehung, das Alter der Kinder sowie die Schwierigkeiten, die Ehepartner und Kinder im Herkunftsland des Verurteilten erwarten würden, zu berücksichtigen (Verweis auf EGMR Z. c. Suisse vom 22. Dezember 2020; I.M. c. Suisse vom 9. April 2019; Üner c. Pays-Bas vom 18. Oktober 2006).
  • Die "Zweijahresregel": Bei einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr sind gemäss der ausländerrechtlichen Praxis ausserordentliche Umstände erforderlich, damit das private Interesse des Betroffenen am Verbleib in der Schweiz das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung überwiegt. Dies gilt grundsätzlich auch bei Ehe mit einem Schweizer Bürger oder einer Schweizer Bürgerin und gemeinsamen Kindern (Verweis auf 6B_153/2025 E. 1.3.4; 6B_221/2025 E. 1.1.3).

1.4. Konkretisierung der Interessenabwägung

  • Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK): Um sich darauf berufen zu können, muss der Ausländer besonders intensive soziale und berufliche Bindungen zur Schweiz nachweisen, die deutlich über eine normale Integration hinausgehen. Die Aufenthaltsdauer ist ein Faktor, wobei Jahre des illegalen Aufenthalts, der Inhaftierung oder blossen Duldung weniger Gewicht haben (BGE 134 II 10 E. 4.3). Eine längere Aufenthaltsdauer in Verbindung mit guter Integration (z.B. durch Schulbesuch in der Schweiz) deutet auf stärkere private Interessen hin (BGE 146 IV 105 E. 3.4.4).
  • Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 13 BV): Dies betrifft primär die Kernfamilie (Ehegatten, Eltern mit minderjährigen Kindern im gemeinsamen Haushalt). Eine Verletzung des Familienlebens liegt nicht vor, wenn erwartet werden kann, dass die Familie ihr Zusammenleben im Ausland fortsetzt (BGE 144 I 91 E. 4.2). Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern geniessen nur Schutz, wenn eine über normale emotionale Bindungen hinausgehende Abhängigkeitsbeziehung besteht (BGE 144 II 1 E. 6.1). Bei fehlendem gemeinsamen Haushalt und unregelmässigem Kontakt mit Kindern liegt in der Regel keine Verletzung des Familienlebens vor (6B_514/2024 E. 3.4.2).
  • Kindeswohl (Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention): Das Kindeswohl ist stets zu berücksichtigen, insbesondere wenn Eltern gemeinsam mit dem Kind leben, das Sorgerecht teilen, oder nur Besuchsrechte bestehen.

1.5. Anwendung durch die Vorinstanz und das Bundesgericht im konkreten Fall

Die Vorinstanz und das Bundesgericht haben die Argumente des Beschwerdeführers zur Härtefallklausel und zur Verhältnismässigkeit umfassend geprüft und sind zum gleichen Ergebnis gekommen:

  • Zum Privatleben: Der Beschwerdeführer kam im Alter von 13 Jahren in die Schweiz und lebte seit über 20 Jahren hier. Trotz der langen Aufenthaltsdauer stellte die Vorinstanz fest, dass er schlecht integriert sei: Keine abgeschlossene Berufsausbildung, diverse "Gelegenheitsjobs", Bezug von Sozialhilfe und Krankenkassensubventionen, wohnte aus finanziellen Gründen teilweise bei seiner Mutter, hatte Schulden. Seine neue Festanstellung in einem CBD-Geschäft sei zu neu, um entscheidend zu sein. Auch ein früherer schwerer Verkehrsdelikt (fahrlässige schwere Körperverletzung an einem Velofahrer) wurde berücksichtigt. Es fehlte an besonders intensiven sozialen und beruflichen Bindungen.

  • Zum Familienleben: Der Beschwerdeführer war nicht mehr mit der Kindesmutter B.__ liiert, insbesondere wegen der gravierenden Gewalttaten (Messerangriff in Anwesenheit der beiden kleinen Kinder im Alter von zehn Monaten und dreieinhalb Jahren), die Anlass des vorliegenden Verfahrens waren. Er hatte aufgrund der Taten ein Kontaktverbot zu Mutter und Kindern. Vor seiner Inhaftierung führte er keinen gemeinsamen Haushalt mit ihnen, leistete keinen Unterhaltsbeitrag und hatte die Kinder (geboren 2020 und 2022) bis zum Zeitpunkt der Appellationsverhandlung nicht legal anerkannt. Die Anerkennungsbemühungen begannen erst im Juli 2023, offenbar unter dem Druck des Strafverfahrens. Es konnte keine effektive Familienbeziehung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK festgestellt werden. Zukünftige Kontakte über Distanz oder Besuche könnten allenfalls bei gerichtlicher Genehmigung möglich sein.

  • Fazit zur "schweren persönlichen Härte": Mangels erfolgreicher Integration und fehlender Verletzung des Familienlebens sahen die Vorinstanz und das Bundesgericht keine schwere persönliche Härte im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB. Die erste kumulative Bedingung der Härtefallklausel war somit nicht erfüllt.

  • Interessenabwägung (hilfsweise): Auch wenn eine schwere persönliche Härte angenommen worden wäre, hätte das öffentliche Interesse an der Landesverweisung das private Interesse des Beschwerdeführers überwiegt:

    • Öffentliches Interesse: Die Schwere der Straftaten (Messerangriff auf die Mutter seiner Kinder in deren Anwesenheit, versuchte schwere Körperverletzung) und die Bedeutung der geschützten Rechtsgüter (körperliche Integrität, Freiheit) begründen ein hohes öffentliches Interesse. Die Verurteilung zu 30 Monaten Freiheitsstrafe (wovon 6 Monate unbedingt) überschreitet die "Zweijahresregel", was ausserordentliche Umstände für einen Verbleib erfordern würde. Dazu kommt eine Vorverurteilung wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und ein erhebliches Rückfallrisiko, da der Beschwerdeführer nur begrenzte Einsicht in die Schwere seiner Taten zeigte und die schwersten Taten bis zur Appellationsverhandlung und im Zivilverfahren bestritt. Therapeutische Massnahmen wurden erst unter dem Druck des Ausweisungsrisikos eingeleitet.
    • Privates Interesse: Der Beschwerdeführer hatte zwar ein privates Interesse am Verbleib in der Schweiz (langer Aufenthalt von 20 Jahren, Ankunft mit 13 Jahren, aktuelle Arbeit, Anwesenheit von Mutter und Kindern). Dieses Interesse wurde jedoch relativiert durch die dünnen Beziehungen zu seinen Kindern und die zivilrechtlich angeordnete Kontaktsperre. Die Reintegration in Mauritius wurde nicht als besonders schwierig beurteilt, da er dort geboren und bis 13 Jahre alt war, einen Grossteil seiner Schulzeit dort absolvierte, und mehrmals (manchmal längere) Ferien dort verbrachte. Seine Mutter reist ebenfalls dorthin.

1.6. Präzedenzfälle und Rügen des Beschwerdeführers

Das Bundesgericht wies die vom Beschwerdeführer zitierten Präzedenzfälle (6B_1485/2021 und 6B_316/2021) als nicht vergleichbar zurück, da die darin behandelten Sachverhalte (z.B. Ankunft im Alter von acht Jahren und 30 Jahre Aufenthalt verheiratet mit einer Person mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht; oder in der Schweiz geboren, dort gesamte Schul- und Berufsbildung absolviert) deutlich von seinem eigenen Fall abweichen. Die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich seines Familienlebens (tiefe Liebe zu den Kindern, Anerkennungsbemühungen) wurden als unbegründet erachtet, da keine gemeinsame Haushaltsführung, keine finanzielle Unterstützung und eine verspätete, durch das Verfahren motivierte Kindesanerkennung vorlagen. Auch sein Privatleben wurde nicht als ausreichend verwurzelt angesehen, um die erforderlichen "besonders intensiven" Bindungen nachzuweisen.

1.7. Letztgültige Interessenabwägung und Verhältnismässigkeit

Zusammenfassend gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass angesichts der Schwere der Straftaten, der mangelnden Einsichtsfähigkeit, des Rückfallrisikos, der Vorstrafen, der fehlenden starken sozialen und familiären Bindungen in der Schweiz (abgesehen von der Mutter und den Kindern, zu denen er keinen Kontakt haben darf) sowie der guten Reintegrationsperspektiven im Herkunftsland das öffentliche Interesse an der Landesverweisung das private Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwiegt. Die Landesverweisung ist somit verhältnismässig und verletzt weder Bundes- noch Konventionsrecht.

III. Ergebnis

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten war. Die Gerichtskosten trägt der Beschwerdeführer.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Der Beschwerdeführer wurde wegen versuchter schwerer Körperverletzung und weiterer Delikte zu 30 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und die Landesverweisung für fünf Jahre angeordnet. Das Bundesgericht bestätigte die Landesverweisung, indem es feststellte, dass die Voraussetzungen der obligatorischen Landesverweisung erfüllt sind und die Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB) nicht greift. Eine "schwere persönliche Härte" wurde verneint, da der Beschwerdeführer trotz langen Aufenthalts in der Schweiz (seit 13. Lebensjahr, über 20 Jahre) unzureichend integriert war (kein Berufsabschluss, wechselnde Jobs, Sozialhilfe, Schulden) und keine "besonders intensiven sozialen oder beruflichen Bindungen" nachweisen konnte. Das Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK wurde ebenfalls nicht als beeinträchtigt angesehen, da er aufgrund seiner Gewalttaten keinen gemeinsamen Haushalt mehr mit der Kindesmutter und den Kindern führte, keinen Unterhalt zahlte und die Kinder erst spät im Rahmen des Verfahrens anerkannte. Auch in der Interessenabwägung überwog das hohe öffentliche Interesse an der Landesverweisung (Schwere der Straftaten, hohes Rückfallrisiko, mangelnde Einsicht, Vorstrafen, Überschreitung der "Zweijahresregel") das relative private Interesse des Beschwerdeführers (langer Aufenthalt, Mutter und Kinder in der Schweiz), insbesondere da seine Reintegration im Herkunftsland als zumutbar erachtet wurde. Die Landesverweisung wurde als verhältnismässig befunden.