Gerne fasse ich das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_956/2024 vom 5. November 2025 detailliert zusammen:
Gericht und Datum:
Bundesgericht, II. Strafrechtliche Abteilung, Urteil vom 5. November 2025
Parteien:
* Beschwerdeführerin: A.A._, als gesetzliche Vertreterin ihrer Tochter B.A._.
* Beschuldigte/Gegenparteien: C.C._ und F.F._ (vertreten durch ihre Eltern), sowie das Genfer Jugendgericht.
Gegenstand:
Jugendstrafverfahren; Einstellungsverfügung
Anfechtungsgegenstand:
Urteil der Strafrechtlichen Beschwerdekammer des Genfer Appellationsgerichts vom 10. Juli 2024, welches die von A.A.__ gegen die Einstellungsverfügungen des Jugendrichters vom 4. März 2024 gerichteten Beschwerden abwies.
Sachverhalt (verkürzt und auf das Wesentliche konzentriert):
Am 25. Januar 2023 reichte A.A._ (Mutter von B.A._) eine Anzeige gegen C.C._, E.C._ und F.F._ ein. Die Anzeige bezog sich auf Vorfälle vom 13. Januar 2023 und umfasste Vorwürfe der Aggression, einfacher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung. Als Beweismittel wurden ein ärztlicher Bericht über Schläge und Verletzungen, ein Sportunfähigkeitszeugnis und ein psychiatrisches Zeugnis (Schulbefreiung) für B.A._ vorgelegt.
Nach polizeilichen Befragungen und Anhörungen durch den Jugendrichter eröffnete dieser am 13. Juni 2023 eine Instruktion gegen C.C._ und F.F._. Eine Konfrontationsverhandlung fand am 22. November 2023 statt. Am 30. November 2023 reichte A.A.__ einen psychiatrischen Bericht über ihre Tochter ein.
Am 4. März 2024 verfügte der Jugendrichter die Einstellung der Strafverfahren gegen C.C._ und F.F._. Die Strafrechtliche Beschwerdekammer des Genfer Appellationsgerichts bestätigte diese Einstellungsverfügungen am 10. Juli 2024. Dagegen legte A.A.__ Beschwerde beim Bundesgericht ein.
Rechtliche Problematik und Begründung des Bundesgerichts:
Die zentrale Frage des Bundesgerichts war, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hatte, indem sie die kumulativen Voraussetzungen für eine Strafbefreiung gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes über das Jugendstrafrecht (JStG; SR 311.1) als erfüllt erachtete und die Einstellungsverfügungen bestätigte. Diese Bestimmung sieht vor, dass die Gerichtsbehörde von einer Strafverfolgung absieht, wenn die Schuld des Minderjährigen und die Folgen der Tat geringfügig sind.
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Rechtliche Grundlagen der Strafbefreiung im Jugendstrafrecht:
- Art. 11 JStG besagt, dass bei schuldhaftem Handeln des Minderjährigen eine Strafe verhängt wird, es sei denn, Art. 21 JStG (Strafbefreiung) ist anwendbar.
- Art. 21 Abs. 1 lit. b JStG erlaubt die Strafbefreiung, wenn die Schuld des Minderjährigen und die Folgen der Tat geringfügig sind. Dies ist eine kumulative Voraussetzung.
- Art. 5 Abs. 1 lit. a der Jugendstrafprozessordnung (JStPO; SR 312.1) präzisiert, dass die Behörde auf eine Strafverfolgung verzichtet, wenn die Bedingungen von Art. 21 JStG erfüllt sind und keine Schutzmassnahmen erforderlich sind oder bereits von einer Zivilbehörde angeordnet wurden.
- Das Bundesgericht weist darauf hin, dass diese Bestimmung Art. 52 des Strafgesetzbuches (StGB) für Erwachsene ähnelt. Art. 52 StGB verlangt ebenfalls, dass die Schuld des Täters und die Folgen seiner Tat geringfügig sind, um von einer Strafe abzusehen. Die Beurteilung der Geringfügigkeit muss im Vergleich zu typischen Fällen gleichartiger Straftaten erfolgen (Verweis auf BGE 146 IV 297 E. 2.3; 135 IV 130 E. 5.3.3). Die Schuld des Täters wird nach den allgemeinen Regeln von Art. 47 StGB, aber auch unter Berücksichtigung weiterer Kriterien wie dem Beschleunigungsgebot oder der Täterkomponente (Vorgeschichte, persönliche Situation, Verhalten nach der Tat – Verweis auf BGE 135 IV 130 E. 5.4) bestimmt.
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Rolle des Bundesgerichts bei der Sachverhaltsfeststellung:
Das Bundesgericht ist keine Appellationsinstanz, die Sachverhalte frei überprüfen kann. Es ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese wurden in Verletzung von Bundesrecht oder offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 und 105 Abs. 2 BGG, d.h. willkürlich im Sinne von Art. 9 BV, festgestellt. Willkür liegt nicht bereits vor, wenn ein Entscheid diskutabel oder gar kritisierbar ist; er muss offensichtlich unhaltbar sein, sowohl in der Begründung als auch im Ergebnis. Rügen, die sich gegen die Sachverhaltsfeststellung richten, müssen präzise substanziiert werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Appellatorische Kritik ist unzulässig.
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Prüfung der Geringfügigkeit der Schuld (Art. 21 Abs. 1 lit. b JStG):
- Die Beschwerdeführerin rügte, die Schuld der Beschuldigten sei nicht geringfügig, stützte sich dabei aber auf eigene, vom vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt abweichende Darstellungen (z.B. Tritte gegen den Kopf, fadenscheinige Entschuldigungen). Solche rein appellatorischen Argumente erachtete das Bundesgericht als unzulässig.
- Das Bundesgericht befand, die Argumentation der Vorinstanz sei nicht zu beanstanden. Die Vorinstanz hatte festgestellt (und diese Feststellungen sind für das Bundesgericht bindend), dass es zu einer verbalen und physischen Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen von Freundinnen gekommen war. Der genaue Hergang war aufgrund widersprüchlicher Aussagen unklar, insbesondere wer die Schlägerei initiiert hatte. Gegenseitige Schläge waren ausgetauscht worden, und die Beschuldigten hatten Schläge eingeräumt. Es konnte nicht bewiesen werden, dass B.A.__ das Bewusstsein verloren hatte oder dass ihr ins Gesicht geschlagen wurde.
- Die Vorinstanz hatte die Schuld der Beschuldigten aufgrund eines Bündels von Elementen relativiert:
- Kontext: Der Vorfall war Teil eines seit Wochen, wenn nicht Monaten, schwelenden Konflikts, der von beiden Gruppen von Teenagern immer wieder angeheizt wurde. Es konnte nicht geklärt werden, welche Gruppe die Auseinandersetzung begonnen hatte.
- Täterkomponente: Die Beschuldigten zeigten Reue und entschuldigten sich. Sie hielten sich an Verhaltensregeln der Schule, und es gab keine weiteren Vorfälle, obwohl die Beteiligten täglich die gleiche Schule besuchten. Eine Mediation zwischen B.A._ und der Beschuldigten F.F._ hatte stattgefunden.
- Angesichts dieser Umstände kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzte, indem sie die Schuld der Beschuldigten als geringfügig qualifizierte.
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Prüfung der Geringfügigkeit der Folgen der Tat (Art. 21 Abs. 1 lit. b JStG):
- Die Beschwerdeführerin monierte, die physischen und psychischen Verletzungen ihrer Tochter seien nicht geringfügig, verwies dabei auf Schulabsenzen und psychologische Betreuung. Auch hier stützte sie sich auf eine eigene Einschätzung und frei vorgebrachte Fakten. Mangels eines Willkürvorwurfs gegen die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen erachtete das Bundesgericht auch diese Rügen als unzulässig.
- Das Bundesgericht sah keine Willkür in der vorinstanzlichen Beurteilung der Folgen:
- Physische Verletzungen: Basierend auf dem ärztlichen Bericht vom 14. Januar 2023 (Beule am Kopf, Schmerzen in Nacken, Brustkorb und oberen Gliedmassen, Prellungen an den unteren Gliedmassen und der Wirbelsäule) wurde die Schwere der Verletzungen als relativ gering eingestuft. Die Vorinstanz hatte die Verletzungen berücksichtigt und nicht "verharmlost".
- Psychische Folgen: Die Vorinstanz hatte willkürfrei festgehalten, dass die psychologische Betreuung aufgrund anderer, vorangehender Ereignisse und "anderer Belästigungserfahrungen" gerechtfertigt war. Der von der Beschwerdeführerin selbst eingereichte psychiatrische Bericht vom 30. November 2024 zeigte, dass die psychologische Betreuung bereits am 7. Dezember 2022 (also vor dem streitigen Vorfall) wegen Belästigungsvorwürfen begonnen hatte. Zudem hatte B.A.__ selbst angegeben, es gehe ihr "nun gut" – ein Element, das im Bundesgerichtsverfahren nicht bestritten wurde.
- Basierend auf diesen Elementen (relative Schwere der physischen Verletzungen, psychotherapeutische Betreuung aufgrund vorangehender Ereignisse, und die Aussage der Tochter über ihr aktuelles Wohlbefinden) sah das Bundesgericht keine Bundesrechtsverletzung in der Annahme der Vorinstanz, die Folgen der Straftat seien geringfügig.
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Fazit zur Anwendung von Art. 21 Abs. 1 lit. b JStG:
Da sowohl die Schuld des Minderjährigen als auch die Folgen der Tat als geringfügig erachtet wurden, bestätigte das Bundesgericht, dass die kumulativen Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 1 lit. b JStG erfüllt waren und die Einstellung der Verfahren gerechtfertigt war.
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Sachbeschädigung:
Die Beschwerdeführerin hatte keine substanziierten Rügen bezüglich der Einstellung des Verfahrens wegen Sachbeschädigung erhoben, weshalb dieser Punkt vom Bundesgericht nicht weiter geprüft wurde.
Nebenpunkt:
Die Beschwerdeführerin beantragte auch die unentgeltliche Rechtspflege für das kantonale Verfahren, legte aber keine Argumente vor, die den Begründungsanforderungen von Art. 42 Abs. 2 BGG genügten. Daher wurde dieser Punkt nicht geprüft. Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege für das Bundesgerichtsverfahren wurde abgelehnt, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war.
Entscheid des Bundesgerichts:
Die Beschwerde wird, soweit darauf eingetreten werden kann, abgewiesen. Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. Die Gerichtskosten von 1'200 CHF werden der Beschwerdeführerin auferlegt, unter Berücksichtigung ihrer finanziellen Situation.
Zusammenfassende Punkte:
- Strafbefreiungsvoraussetzungen: Das Bundesgericht bestätigte die Anwendung von Art. 21 Abs. 1 lit. b JStG, der eine Strafbefreiung bei geringfügiger Schuld des Minderjährigen und geringfügigen Folgen der Tat vorsieht (kumulativ).
- Geringfügigkeit der Schuld: Die Schuld der Beschuldigten wurde aufgrund des konfliktreichen Umfelds, der ungeklärten Initiierung der Auseinandersetzung, des gegenseitigen Austauschs von Schlägen sowie positiver Täterkomponenten (Reue, Entschuldigungen, Einhaltung von Regeln, Mediation) als geringfügig beurteilt.
- Geringfügigkeit der Folgen: Die physischen Verletzungen wurden als relativ gering eingestuft. Die psychischen Folgen konnten nicht primär der streitigen Auseinandersetzung zugeschrieben werden, da die psychologische Betreuung des Opfers bereits vor dem Vorfall aufgrund anderer Belästigungserfahrungen begonnen hatte.
- Bundesgerichtsliche Überprüfung: Das Bundesgericht prüfte lediglich, ob die vorinstanzliche Beurteilung willkürlich oder bundesrechtswidrig war, und wies appellatorische Rügen ab, die sich über den festgestellten Sachverhalt hinwegsetzten.
- Ergebnis: Die Beschwerde wurde abgewiesen, und die Einstellungsverfügungen gegen die jugendlichen Beschuldigten wurden bestätigt.