Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_370/2025 vom 17. November 2025 befasst sich detailliert mit der mehrwertsteuerrechtlichen Qualifikation des Erwerbs und Verkaufs von Deckrechten an Rennpferdehengsten aus dem Ausland. Die A.__ AG (nachfolgend: die Beschwerdeführerin), ein Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, das im Handel mit solchen Deckrechten tätig ist, wehrte sich gegen eine Mehrwertsteuernachforderung der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) im Zusammenhang mit der Bezugsteuer (impôt sur les acquisitions) für die Steuerperioden 2015 bis 2017.
I. Sachverhalt und Streitgegenstand
Die Beschwerdeführerin erwirbt im Ausland – namentlich von Eigentümergemeinschaften (Syndikaten) von Rennpferdehengsten in B._ – Deckrechte und verkauft diese anschliessend an Stutenbesitzer in der südlichen Hemisphäre (z.B. C._). Die Fortpflanzung von Vollbluthengsten erfolgt ausschliesslich durch Natursprung (monte en main), was spezifische Kenntnisse und das Vorhandensein des Hengstes und der Stute am selben Ort erfordert.
Die ESTV qualifizierte die von der Beschwerdeführerin erworbenen Deckrechte als im Ausland bezogene Dienstleistungen, deren Leistungsort sich nach Art. 8 Abs. 1 MWSTG in der Schweiz (am Sitz des Leistungsempfängers) befinde. Folglich unterlägen diese Leistungen der Bezugsteuer gemäss Art. 45 Abs. 1 lit. a MWSTG, da die Leistungserbringer (die ausländischen Syndikate) nicht im Schweizer Mehrwertsteuerregister eingetragen seien. Die Beschwerdeführerin hatte diese Leistungen nicht deklariert, worauf die ESTV eine Steuernachforderung von rund CHF 2,75 Mio. festsetzte. Nach erfolgloser Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVGer) focht die Beschwerdeführerin den Entscheid vor Bundesgericht an mit dem Ziel, die Bezugsteuerforderung erheblich zu reduzieren.
II. Massgebende rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüfte im Wesentlichen drei Hauptargumente der Beschwerdeführerin:
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Das Vorliegen einer indirekten Stellvertretung (Art. 20 MWSTG):
- Argument der Beschwerdeführerin: Es bestehe eine indirekte Stellvertretung zwischen ihr und dem Haras-Manager (E.__ AG), der die Deckrechte in der südlichen Hemisphäre weiterverkauft. Die vom Haras-Manager erbrachten Zusatzleistungen wie Pensionsdienste für die Stuten seien akzessorisch zur Hauptleistung der Besamung und dürften die Qualifikation als indirekte Stellvertretung für die "Deckleistung" nicht ausschliessen.
- Rechtliche Grundlagen (Art. 20 MWSTG): Art. 20 Abs. 1 MWSTG statuiert den Grundsatz, dass eine Leistung von der Person erbracht wird, die gegenüber Dritten als Leistungserbringer auftritt ("Eigengeschäft"). Im Falle einer indirekten Stellvertretung nach Art. 20 Abs. 3 MWSTG liegt eine Leistung sowohl zwischen dem als Leistungserbringer auftretenden und dem tatsächlich leistenden als auch zwischen dem als Leistungserbringer auftretenden und dem Leistungsempfänger vor. Die Zurechnung einer Leistung erfolgt gemäss der objektiven Beurteilung aus Sicht eines Dritten ohne spezifische Kenntnisse der internen Verhältnisse (Verweis auf BGer 9C_433/2024).
- Beurteilung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht folgte dem BVGer und verneinte das Vorliegen einer indirekten Stellvertretung. Es führte aus, dass die Leistungen zwischen der Beschwerdeführerin und dem Haras-Manager (E.__) im Wesentlichen den Transfer von Deckrechten betreffen. Die Leistungen des Haras-Managers an die Stutenbesitzer hingegen umfassen nicht nur die Deckrechte, sondern ein komplexes Bündel an Leistungen: die Organisation der Anwesenheit des Hengstes im Gestüt, die Unterbringung und Vorbereitung der Stute sowie die spezifische Arbeit eines "étalonnier" (Hengstpfleger), um die erfolgreiche Befruchtung zu ermöglichen. Diese Leistungen seien als "wirtschaftlich miteinander verknüpfte Elemente" zu verstehen, die sich von der blossen Zurverfügungstellung von Deckrechten wesentlich unterscheiden. Die vom Haras-Manager erbrachten Dienste stellten keine bloss akzessorischen Nebenleistungen dar, sondern bildeten ein untrennbares Ganzes, das für die Realisierung der eigentlichen Zuchtleistung unerlässlich sei.
- Abgrenzung zur Rechtsprechung: Das Bundesgericht hob hervor, dass der vorliegende Fall sich von früheren Urteilen (z.B. BGer 2C_727/2021 betreffend Therapien in einer Apotheke) unterscheide. Im Apothekenfall habe die Apotheke kein Leistungsbündel angeboten, das weit über die von den Therapeuten selbst erbrachten Leistungen hinausgegangen wäre. Hier hingegen umfasse der Haras-Manager ein Gesamtpaket, das sich von der blossen Zurverfügungstellung von Deckrechten klar abhebe. Neue Tatsachenbehauptungen der Beschwerdeführerin betreffend "walk-on mares" und den Anteil an Pensionsdiensten wurden gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG als unzulässig verworfen.
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Qualifikation als Lieferung von Gegenständen oder Dienstleistung (Art. 3 lit. d und e MWSTG):
- Argument der Beschwerdeführerin: Die Deckrechte seien keine Dienstleistung, sondern eine Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 3 lit. d MWSTG, namentlich eine Bearbeitung (Ziff. 2) oder eine Gebrauchs- oder Nutzungsüberlassung (Ziff. 3) des Hengstes. Der Hengst stehe während des Deckakts nicht für andere Zwecke zur Verfügung, was einem Nutzungsrecht gleichkomme.
- Rechtliche Grundlagen (Art. 3 MWSTG): Eine Leistung gemäss Art. 3 lit. c MWSTG ist ein dem Dritten gewährter, konsumierbarer wirtschaftlicher Vorteil gegen Entgelt. Eine Leistung ist entweder eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung. Art. 3 lit. e MWSTG definiert eine Dienstleistung als jede Leistung, die keine Lieferung ist. Art. 3 lit. d MWSTG beschreibt eine Lieferung als:
- Ziff. 1: Einräumung der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über einen Gegenstand im eigenen Namen.
- Ziff. 2: Übergabe eines Gegenstands, an dem Arbeiten (z.B. Reparaturen, Veredelungen) ausgeführt wurden.
- Ziff. 3: Zurverfügungstellung eines Gegenstands zum Gebrauch oder zur Nutzung (z.B. Miet- oder Pachtvertrag, Art. 253 ff. OR, 275 ff. OR). Dies setzt einen körperlichen Gegenstand voraus, an dem dem Leistungsempfänger Besitzrechte eingeräumt werden.
- Beurteilung des Bundesgerichts:
- Art. 3 lit. d Ziff. 1 MWSTG (Wirtschaftliche Verfügungsmacht): Dies wurde von der Beschwerdeführerin im Bundesgerichtsverfahren nicht mehr bestritten und vom BVGer mangels Übertragung von Verfügungsmacht über den Hengst als irrelevant erachtet.
- Art. 3 lit. d Ziff. 3 MWSTG (Gebrauchs- oder Nutzungsüberlassung): Das Bundesgericht bestätigte die Feststellung des BVGer, dass das Syndikat den Hengst der Beschwerdeführerin nicht zur Verfügung gestellt hat. Im Vertrag zwischen der Beschwerdeführerin und dem Syndikat ist kein Nutzungs- oder Gebrauchsrecht am Hengst erwähnt. Ohne eine solche Gebrauchsüberlassung kann weder ein Mietvertrag nach Art. 253 OR noch ein Pachtvertrag nach Art. 275 OR vorliegen, die eine physische Sache als Vertragsgegenstand und die Einräumung von Besitzrechten erfordern. Das Argument der Beschwerdeführerin, dass der Haras-Manager von ihr ein Nutzungsrecht erhalten habe und sie dieses folglich selbst besessen haben müsse, wurde zurückgewiesen, da es nicht die Vertragsbeziehung zwischen ihr und dem Syndikat betrifft.
- Art. 3 lit. d Ziff. 2 MWSTG (Arbeiten an einem Gegenstand): Die Beschwerdeführerin bestritt nicht die Feststellung des BVGer, dass das Syndikat ihr keinen Hengst übergeben habe, an dem Arbeiten ausgeführt worden wären. Die Behauptung, die Deckleistung sei ein "bon de prestation" für eine Arbeit an einem Gegenstand, wurde daher als unbegründet abgewiesen.
- Fazit: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die streitige Leistung keiner der Kategorien von Art. 3 lit. d MWSTG entspricht. Der Erwerb von Deckrechten stellt somit eine Dienstleistung im Sinne von Art. 3 lit. e Ziff. 1 MWSTG dar.
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Ausschluss von der Steuerpflicht als Finanzinstrument (Art. 21 Abs. 2 Ziff. 19 lit. e MWSTG):
- Argument der Beschwerdeführerin: Das Deckrecht habe die Merkmale eines Finanzinstruments. Es gewähre ein Recht auf eine zukünftige Leistung, dessen Wert schwanke und das übertragbar und handelbar sei, vergleichbar einer Option.
- Rechtliche Grundlagen (Art. 21 Abs. 2 Ziff. 19 lit. e MWSTG): Diese Bestimmung schliesst Operationen auf den Geld- und Kapitalmärkten, einschliesslich des Handels mit Wertpapieren, Wertrechten und Derivaten sowie Gesellschaftsanteilen, von der Steuerpflicht aus.
- Beurteilung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht verneinte die Anwendbarkeit dieser Ausschlussbestimmung. Es verwies auf die im Urteil BGer 2C_660/2020 (tropische Bäume) entwickelten Kriterien für die Qualifikation als Finanzinstrument, nämlich die Investition in ein standardisiertes Produkt, das einer Vielzahl von Anlegern zu gleichen Konditionen angeboten wird und uniform und für den Massenhandel geeignet ist. Diese Merkmale träfen auf die streitigen Deckrechte nicht zu. Die Beschwerdeführerin habe nicht in ein solches standardisiertes Produkt investiert; es handele sich um reine Kauf- und Verkaufsgeschäfte mit Intermediären, wobei die Beschwerdeführerin ihre Erfahrung in der Pferdewelt nutze, um Deckrechte zu erwerben und weiterzuverkaufen. Eine "funktionale Analogie zu einer Finanzoption" wurde nicht anerkannt.
III. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht bestätigte die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts. Der Erwerb der Deckrechte durch die Beschwerdeführerin stellt eine Dienstleistung dar, die der Bezugsteuer nach Art. 45 Abs. 1 lit. a MWSTG unterliegt. Die Beschwerde wurde daher abgewiesen.
IV. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Bezugsteuerpflicht: Der Erwerb von Deckrechten für Hengste aus dem Ausland durch ein Schweizer Unternehmen, dessen Leistungsort in der Schweiz liegt, unterliegt der Bezugsteuer, sofern die ausländischen Erbringer nicht MWST-registriert sind.
- Keine indirekte Stellvertretung: Es liegt keine indirekte Stellvertretung vor, wenn der Wiederverkäufer der Deckrechte (Haras-Manager) zusätzlich ein umfassendes Paket von Dienstleistungen (Organisation der Zucht, Stutenpension, Hengstpfleger) erbringt, das die blosse Zurverfügungstellung von Deckrechten wirtschaftlich übersteigt und ein untrennbares Leistungsbündel darstellt.
- Qualifikation als Dienstleistung: Deckrechte stellen keine Lieferung von Gegenständen dar, da weder die wirtschaftliche Verfügungsmacht über den Hengst übertragen wird, noch Arbeiten am Hengst im Sinne des MWSTG erbracht werden, noch der Hengst dem Erwerber zum Gebrauch oder zur Nutzung überlassen wird. Es handelt sich um ein immaterielles Recht und somit um eine Dienstleistung.
- Kein Finanzinstrument: Deckrechte fallen nicht unter die Steuerbefreiung für Finanzinstrumente, da sie keine standardisierten, für den Massenhandel geeigneten Produkte darstellen, in die investiert wird.