Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_331/2025 vom 12. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_331/2025 vom 12. November 2025 befasst sich mit einer Beschwerde in Strafsachen gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich. Im Zentrum stehen zwei Hauptfragen: die Qualifikation eines Manövers als unerlaubtes Rechtsüberholen auf dem Pannenstreifen und die Anwendbarkeit des Ordnungsbussenverfahrens.

I. Sachverhalt

Am 7. März 2023 befuhr A.__ (Beschwerdeführer) um 17:20 Uhr mit seinem Personenwagen die Autobahn A3 Richtung Basel im stockenden Kolonnenverkehr. Etwa 40 Meter vor der Ausfahrt Urdorf-Nord wechselte er bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h von der Normalspur auf den Pannenstreifen, um die Autobahn zu verlassen. Dabei fuhr er rechts an vier auf der Normalspur befindlichen Fahrzeugen vorbei.

II. Vorinstanzliche Entscheidungen

  1. Bezirksgericht Dietikon (27. September 2023): Verurteilte A.__ wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln (Befahren des Pannenstreifens) zu einer Busse von Fr. 100.--. Vom Vorwurf der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln (Verstoss gegen das Verbot des Rechtsüberholens) sprach es ihn frei.
  2. Obergericht des Kantons Zürich (6. Januar 2025): Verurteilte A.__ wegen mehrfacher einfacher Verletzung der Verkehrsregeln (Befahren des Pannenstreifens und Verstoss gegen das Verbot des Rechtsüberholens) zu einer Busse von Fr. 350.--.

III. Rügen des Beschwerdeführers vor Bundesgericht

Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils. Er verlangte, lediglich wegen Fahrens auf dem Pannenstreifen zu einer Ordnungsbusse von Fr. 140.-- (eventualiter Busse von Fr. 140.--) verurteilt und vom Vorwurf des unerlaubten Rechtsüberholens freigesprochen zu werden. Zudem machte er eine Verletzung des Bundesrechts durch die Nichtanwendung des Ordnungsbussenverfahrens geltend und verlangte Parteientschädigungen sowie einen Verzicht auf Gerichtskosten.

IV. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Beschwerde in zwei Hauptpunkten detailliert:

1. Rechtsüberholen auf dem Pannenstreifen (Art. 90 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 36 Abs. 5 VRV)

  • Argumentation des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer kritisierte den Schuldspruch wegen unerlaubten Rechtsüberholens. Er vertrat die Ansicht, sein Manöver stelle ein nach Art. 36 Abs. 5 der Verkehrsregelnverordnung (VRV) erlaubtes Rechtsvorbeifahren im Kolonnenverkehr dar. Er habe niemanden gefährdet und keine abstrakt erhöhte Gefahr geschaffen. Das Manöver sei identisch mit demjenigen eines Verkehrsteilnehmers, der auf einem regulären Fahrstreifen rechts vorbeifahre, um eine Ausfahrt zu nutzen. Das Befahren des Pannenstreifens sei bereits sanktioniert und dürfe nicht nochmals beim Vorwurf des unerlaubten Rechtsüberholens berücksichtigt werden.

  • Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz hielt fest, dass die Aufzählung der erlaubten Fälle des Rechtsvorbeifahrens in Art. 36 Abs. 5 lit. a-d VRV abschliessend sei. Ausserhalb dieser Ausnahmen sei Rechtsvorbeifahren verboten und als unerlaubtes Rechtsüberholen zu qualifizieren. Das Befahren des Pannenstreifens sei gemäss Art. 36 Abs. 3 VRV nur für Nothalte gestattet. Der Beschwerdeführer habe durch das Ausschwenken auf den Pannenstreifen und das Überholen eine unklare Verkehrslage sowie eine zumindest abstrakte Gefahrensituation geschaffen, da korrekt fahrende Lenker von einem unvermittelt auftauchenden Fahrzeug überrascht werden könnten.

  • Ausführungen des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die Auslegung der Vorinstanz und wies die Argumente des Beschwerdeführers zurück:

    • Rechtliche Grundlagen: Das Rechtsüberholverbot ergibt sich aus Art. 35 Abs. 1 SVG und wird für Autobahnen und Autostrassen in Art. 36 Abs. 5 VRV ausdrücklich festgehalten. Die dort genannten Ausnahmen (lit. a-d) sind laut Willen des Verordnungsgebers abschliessend (vgl. ASTRA Erläuterungen, 2019, S. 4). Überholen liegt vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug ein langsamer vorausfahrendes einholt und vorbeifährt (BGE 148 IV 374 E. 3.1). Der Pannenstreifen darf gemäss Art. 36 Abs. 3 VRV nur für Nothalte benutzt werden.
    • Konkreter Sachverhalt: Das Manöver des Beschwerdeführers, auf dem Pannenstreifen an vier Fahrzeugen vorbeizufahren, fällt nicht unter die erlaubten Ausnahmen des Art. 36 Abs. 5 lit. a-d VRV.
    • Gefahrenpotential: Wer bei stockendem Kolonnenverkehr auf den Pannenstreifen ausschwenkt, um zu überholen, schafft eine ernstliche Gefahr (vgl. BGE 133 II 58 E. 5.3; Urteil 6B_227/2015 E. 1.3.5). Dies bewirkt eine unklare Verkehrslage (Art. 26 Abs. 2 SVG), frustriert andere Verkehrsteilnehmer und provoziert Nachahmung.
    • Status des Pannenstreifens: Der Pannenstreifen ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers keine reguläre Fahrspur, sondern nur Teil der Fahrbahn für Nothalte (BGE 114 IV 55 E. 2c). Rechtsüberholen setzt grundsätzlich einen Fahrstreifen voraus (BGE 124 IV 219 E. 3b). Der Vertrauensgrundsatz besagt, dass Lenker auf der Normalspur darauf vertrauen dürfen, beim Einbiegen in die Ausfahrt nicht von einem Fahrzeug auf dem Pannenstreifen bedrängt oder überholt zu werden (BGE 142 IV 93 E. 4.2).
    • Keine Doppelbestrafung: Die Tatbestände des Befahrens des Pannenstreifens (Art. 36 Abs. 3 VRV) und des unerlaubten Rechtsüberholens (Art. 36 Abs. 5 VRV) verfolgen unterschiedliche Zwecke. Ersterer stellt die Freihaltung des Pannenstreifens für Nothalte sicher, Letzterer regelt das zulässige Vorbeifahren. Indem der Beschwerdeführer den Pannenstreifen zum Überholen benutzte, verletzte er beide Bestimmungen, da er den Pannenstreifen blockierte und ihn verbotswidrig zum Überholen nutzte. Der Schuldspruch wegen unerlaubten Rechtsüberholens sanktioniert die rechtswidrige Verwendung des Pannenstreifens zum Überholen, nicht dessen blosses Befahren.
    • Presseartikel (Novum): Ein vom Beschwerdeführer angeführter Presseartikel, der sich mit der künftigen Signalisation von Pannenstreifen zur Nutzung bei Stau befasste, wurde als unzulässiges Novum im bundesgerichtlichen Verfahren nicht berücksichtigt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Selbst bei Berücksichtigung hätte er nichts geändert, da er ausdrücklich festhielt, dass das Überholen auf dem Pannenstreifen ohne entsprechende Signalisation nicht statthaft sei.
    • Fazit zu Punkt 1: Das Bundesgericht erachtete den Schuldspruch wegen Verletzung der Verkehrsregeln durch unerlaubtes Rechtsüberholen als bundesrechtskonform.

2. Anwendbarkeit des Ordnungsbussenverfahrens (OBG)

  • Argumentation des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer rügte, die Strafverfolgungsbehörden und die Vorinstanz hätten gegen Bundesrecht verstossen, indem sie ihn im ordentlichen Verfahren statt im kostenlosen Ordnungsbussenverfahren verurteilten. Er sei nicht über die Möglichkeit des Ordnungsbussenverfahrens und dessen Ablehnung informiert worden. Das ordentliche Verfahren sei ohne sachlichen Grund eingeleitet worden, was einen prozessualen Fehler darstelle und ihm Parteientschädigungen für die unteren Instanzen zusprechen müsse. Selbst im ordentlichen Verfahren habe er Anspruch auf Ausfällung einer Ordnungsbusse.

  • Begründung der Vorinstanz: Die Vorinstanz führte aus, der Beschwerdeführer habe die subjektive Tatbestandsmässigkeit und die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens von Beginn weg infrage gestellt. Er habe bei der Polizeikontrolle angegeben, er habe die Fahrstreifenbemalung nicht gesehen und gedacht, die Benutzung des Pannenstreifens bei Stau sei erlaubt, da andere Fahrzeuge dasselbe getan hätten. Das ordentliche Verfahren sei daher zu Recht zur Anwendung gelangt.

  • Ausführungen des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die Rechtmässigkeit des ordentlichen Verfahrens:

    • Rechtliche Grundlagen: Das Ordnungsbussenverfahren ist obligatorisch anzuwenden, wenn seine Voraussetzungen gegeben sind (Art. 1 Abs. 1 lit. a Ziff. 7 und Abs. 4 OBG). Es dient der raschen Erledigung von Bagatellübertretungen (BGE 145 IV 252 E. 1.5). Gemäss Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 3 lit. c OBG setzt das Ordnungsbussenverfahren voraus, dass die Widerhandlung festgestellt wurde und die beschuldigte Person das Verfahren nicht ablehnt. Im ordentlichen Verfahren können Kosten erhoben werden, es sei denn, es wurde ohne sachlichen Grund eingeleitet (BGE 145 IV 252 E. 1.5).
    • Strafbarkeitsbestreitung als Ablehnung: Das Bundesgericht präzisierte, dass die Polizei das ordentliche Verfahren auch ohne explizite Ablehnung oder vorherige Information über das Ordnungsbussenverfahren einleiten muss, wenn die beschuldigte Person die Strafbarkeit ihres Verhaltens in Abrede stellt (Urteil 6B_564/2012 E. 2.3 f.). Das Ordnungsbussenverfahren erfordert ein unbestrittenes Schuldeingeständnis.
    • Konkreter Sachverhalt: Die Erklärungen des Beschwerdeführers gegenüber der Polizei, er habe die Benutzung des Pannenstreifens für erlaubt gehalten und die Bemalung nicht gesehen, zeigten klar, dass er mit dem Schuldspruch bzw. der rechtlichen Qualifikation seines Verhaltens nicht einverstanden war. Dies konnte die Polizei nicht als Schuldeingeständnis werten. Folglich war die Polizei verpflichtet, das ordentliche Verfahren einzuleiten, welches somit nicht ohne sachlichen Grund eröffnet wurde.
    • Kein Anspruch auf Ordnungsbusse im ordentlichen Verfahren: Art. 14 OBG, der die Möglichkeit einer Ordnungsbusse im ordentlichen Verfahren vorsieht, ist eine Kann-Vorschrift. Die Anwendung liegt im Ermessen des Gerichts (Urteil 6B_1267/2022 E. 2.1), das nicht verpflichtet ist, eine Ordnungsbusse auszufällen (BGE 121 IV 375 E. 1c). Der Beschwerdeführer hat somit keinen Anspruch auf eine solche. Die Vorinstanz durfte die Busse unter Berücksichtigung des Verschuldens und der persönlichen Verhältnisse festlegen.
    • Fazit zu Punkt 2: Das Bundesgericht befand, dass die Anwendung des ordentlichen Verfahrens bundesrechtskonform war und der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Parteientschädigung oder eine Ordnungsbusse im ordentlichen Verfahren hatte.

V. Entscheid des Bundesgerichts

Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- und erhält keine Entschädigung.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Unerlaubtes Rechtsüberholen auf Pannenstreifen: Das Bundesgericht bestätigt, dass das Überholen von Fahrzeugen auf dem Pannenstreifen im stockenden Kolonnenverkehr auf Autobahnen als unerlaubtes Rechtsüberholen nach Art. 36 Abs. 5 VRV qualifiziert wird. Die Ausnahmen für Rechtsvorbeifahren in dieser Bestimmung sind abschliessend.
  • Gefahrenpotential: Solche Manöver schaffen eine ernstliche Gefahr und eine unklare Verkehrslage, da der Pannenstreifen nicht als reguläre Fahrspur gilt und nur für Nothalte vorgesehen ist (Art. 36 Abs. 3 VRV). Der Vertrauensgrundsatz schützt korrekt fahrende Lenker vor unerwartetem Überholen vom Pannenstreifen.
  • Abgrenzung der Straftatbestände: Die Verurteilung wegen Befahrens des Pannenstreifens und wegen unerlaubten Rechtsüberholens stellt keine Doppelbestrafung dar, da beide Bestimmungen unterschiedliche Schutzgüter verfolgen und das Überholen die rechtswidrige Verwendung des Pannenstreifens zum Überholen sanktioniert.
  • Anwendbarkeit des Ordnungsbussenverfahrens: Das ordentliche Strafverfahren ist korrekt eingeleitet worden, da der Beschwerdeführer die Strafbarkeit seines Verhaltens infrage gestellt hat. Eine ausdrückliche Ablehnung des Ordnungsbussenverfahrens oder vorherige Information durch die Polizei ist nicht zwingend erforderlich, wenn der Beschuldigte die Schuld bestreitet.
  • Kein Anspruch auf Ordnungsbusse im ordentlichen Verfahren: Die Gerichte sind im ordentlichen Verfahren nicht an den Ordnungsbussenkatalog gebunden und haben kein zwingendes Ermessen, eine Ordnungsbusse auszusprechen (Art. 14 OBG ist eine "Kann-Vorschrift").