Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_551/2025 vom 13. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts (7B_551/2025) I. Einführung

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (II. Strafrechtliche Abteilung) vom 13. November 2025 (7B_551/2025) befasst sich mit der Frage der zulässigen Vollzugsform einer institutionellen therapeutischen Massnahme nach Art. 59 StGB. Im Zentrum steht die Überführung des Beschwerdeführers A._ in die "Colonie ouverte" (offene Abteilung) der Anstalten U._ und die Vereinbarkeit dieser Platzierung mit den gesetzlichen Vorgaben für den Massnahmenvollzug.

II. Sachverhalt

Der 1999 geborene Beschwerdeführer A.__ wurde am 22. Juni 2020 vom Kantonsgericht Freiburg wegen verschiedener Delikte (u.a. versuchte schwere Körperverletzung, einfache Körperverletzung, Aggression, Diebstahl, Sachbeschädigung) zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren, 5 Monaten und 10 Tagen verurteilt. Gleichzeitig wurde eine institutionelle therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 StGB angeordnet, basierend auf einem psychiatrischen Gutachten vom 29. März 2019. Die dagegen gerichtete Beschwerde an das Bundesgericht wurde am 13. Oktober 2020 (6B_993/2020) abgewiesen.

Am 19. April 2021 setzte der Strafvollzugsdienst des Kantons Freiburg (SESPP) die Freiheitsstrafe aus und ordnete den Vollzug der therapeutischen Massnahme an, wobei der Beschwerdeführer in den Anstalten U._, zunächst im Gefängnis V._, untergebracht und durch den Dienst für Gefängnismedizin und -psychiatrie (SMPP) psychotherapeutisch behandelt wurde. Im Juli 2023 wurde er in die "Colonie fermée" (geschlossene Abteilung) der Anstalten U.__ verlegt.

Die bedingte Entlassung und Aufhebung der Massnahme wurde dem Beschwerdeführer im Februar 2024 zum dritten Mal in Folge verweigert, eine Entscheidung, die sowohl vom Kantonsgericht (22. Oktober 2024) als auch vom Bundesgericht (13. Februar 2025, 7B_1284/2024) bestätigt wurde. Diese frühere bundesgerichtliche Entscheidung betraf somit den gleichen Beschwerdeführer und stellte fest, dass trotz Fortschritten ein therapeutisches Monitoring aufgrund des weiterhin bestehenden Rückfallrisikos erforderlich sei.

Mit Entscheid vom 13. November 2024 genehmigte der SESPP die Verlegung des Beschwerdeführers von der geschlossenen in die "Colonie ouverte" (offene Abteilung) der Anstalten U._, unter verschiedenen Bedingungen. Diese Entscheidung stützte sich auf positive Berichte des SMPP, ein positives Gutachten der Beratenden Kommission für bedingte Entlassung und Gefährlichkeitseinschätzung sowie auf die Empfehlung der Direktion der Anstalten U._. Die Sicherheits-, Justiz- und Sportdirektion (DSJS) des Kantons Freiburg bestätigte diese Entscheidung am 10. Februar 2025.

Gegen diese Bestätigung gelangte A.__ an das Kantonsgericht, mit dem Hauptargument, die "Colonie ouverte" sei keine geeignete Einrichtung für den Vollzug einer therapeutischen Massnahme nach Art. 59 Abs. 2 StGB. Er beantragte seine sofortige Platzierung in einer geeigneten Einrichtung oder die Aufhebung der Massnahme. Das Kantonsgericht wies die Beschwerde am 7. Mai 2025 ab.

III. Rechtliche Problematik und Vorinstanzen

Der Kern der Beschwerde an das Bundesgericht liegt in der Frage, ob die "Colonie ouverte" der Anstalten U.__ eine rechtlich zulässige Einrichtung für den Vollzug einer institutionellen therapeutischen Massnahme gemäss Art. 59 StGB darstellt.

Die Argumentation des Beschwerdeführers: A.__ machte geltend, die "Colonie ouverte" erfülle die gesetzlichen Anforderungen an eine geeignete Einrichtung für eine therapeutische Massnahme zur Behandlung psychischer Störungen nicht.

Die Begründung der Vorinstanz: Das Kantonsgericht stützte sich auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, insbesondere auf den Entscheid 6B_481/2022 vom 29. November 2022, und kam zum Schluss, die "Colonie ouverte" erfülle die Anforderungen von Art. 59 Abs. 3 StGB. Es stellte fest, dass trotz der Fortschritte des Beschwerdeführers weiterhin therapeutische Begleitung notwendig sei, da ein Rückfallrisiko fortbestehe. Dies wurde durch verschiedene Berichte bestätigt. Daher erschien die Verlegung in die "Colonie ouverte" als adäquat. Das Kantonsgericht sah im Rahmen, den die "Colonie ouverte" biete, eine angemessene Lösung für einen Häftling mit positiver Entwicklung, der jedoch weiterhin therapeutische Betreuung in einem strukturierten Umfeld benötige.

IV. Die rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde ein, da die Voraussetzungen des Art. 78 Abs. 2 lit. b LTF erfüllt waren und der Beschwerdeführer zur Anfechtung berechtigt war.

1. Der relevante rechtliche Rahmen:

  • Art. 59 Abs. 2 StGB (Grundsatz): Eine institutionelle Behandlung psychischer Störungen erfolgt in einer geeigneten psychiatrischen Anstalt oder einer Massnahmenvollzugsanstalt.
  • Art. 58 Abs. 2 StGB (Trennungsprinzip): Die Vollzugsanstalten für therapeutische Massnahmen nach Art. 59 bis 61 StGB müssen von den Anstalten zum Vollzug von Strafen getrennt sein. Eine spezialisierte Massnahmenvollzugsanstalt muss von einem Arzt geleitet oder überwacht werden, über die nötigen Einrichtungen sowie über entsprechend geschultes und ärztlich überwachtes Personal verfügen (Referenzen: BGE 6B_1322/2021, 6B_1483/2020, 6B_445/2013).
  • Art. 59 Abs. 3 StGB (Ausnahmeregel für geschlossenen Vollzug): Solange zu befürchten ist, dass der Täter flieht oder weitere Straftaten begeht, erfolgt der Vollzug der therapeutischen Massnahme in einer geschlossenen Anstalt oder in einer geschlossenen Justizvollzugsanstalt bzw. in der geschlossenen Abteilung einer offenen Justizvollzugsanstalt, sofern die erforderliche therapeutische Behandlung durch qualifiziertes Personal gewährleistet ist. Diese Bestimmung ist eine Spezialnorm gegenüber Art. 58 Abs. 2 StGB (Referenzen: BGE 7B_1284/2024, 7B_883/2023, 6B_360/2023). Das Flucht- oder Rückfallrisiko muss dabei in dem Sinne qualifiziert sein, dass eine hochgradige Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten gegen wesentliche Rechtsgüter besteht und die Verhinderung dieses Risikos eine Platzierung in einer geschlossenen Einrichtung erfordert.
  • Ergänzung zur Spezialnorm: Das Bundesgericht stellte klar, dass in neueren Urteilen erwähnte Ausführungen, wonach eine therapeutische Massnahme auch in einer Justizvollzugsanstalt durchgeführt werden könne, sich stets auf den geschlossenen Vollzug gemäss Art. 59 Abs. 3 StGB bezogen. Abgesehen von dieser Spezialregelung (und der vorübergehenden Sicherheitshaft bis zur Platzfindung, Art. 440 StPO) schreibt Art. 58 Abs. 2 StGB die Trennung von Massnahmen- und Strafvollzug zwingend vor (Referenzen: BGE 148 I 116, 142 IV 105).
  • EMRK (Art. 5 Abs. 1): Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) fordert, dass die Haft einer Person mit psychischen Störungen in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgen muss. Auch eine Justizvollzugsanstalt kann unter Umständen genügen, wenn sie eine adäquate, individualisierte Behandlung gewährleistet. Die Verzögerung bei der Unterbringung in einer geeigneten Anstalt führt nicht automatisch zur Unrechtmässigkeit der Haft, wenn die Behörden angemessene Anstrengungen unternehmen (Referenzen: EGMR Rooman c. Belgien, Kadusic c. Schweiz, Mehenni (Adda) c. Suisse, Papillo c. Suisse, Claes c. Belgique; BGE 7B_1071/2024).

2. Bundesgerichtliche Analyse der kantonalen Beurteilung:

  • Charakter der "Colonie ouverte": Das Bundesgericht stellte fest, dass die "Colonie ouverte" gemäss dem Konkordat über den Straf- und Massnahmenvollzug in den lateinischen Kantonen (Concordat latin) eine offene Abteilung einer geschlossenen Anstalt (mit geringer Sicherheit) ist, die für den Vollzug von Strafen (Art. 76 Abs. 1 StGB) bestimmt ist. Sie ist keine eigens für therapeutische Massnahmen (Art. 59 Abs. 2 StGB) vorgesehene Einrichtung.
  • Irrtum der Vorinstanz und Präzedenzfall: Das Bundesgericht verweist auf den neueren, zur Publikation vorgesehenen Entscheid 7B_278/2025 vom 7. Oktober 2025, der einen identischen Fall behandelt. In diesem Urteil wurde klargestellt, dass eine offene Justizvollzugsanstalt die Trennungsanforderung des Art. 58 Abs. 2 StGB nicht erfüllt und auch nicht unter die Spezialregel des Art. 59 Abs. 3 StGB fällt, da diese einen geschlossenen Vollzug bei Flucht- oder hohem Rückfallrisiko voraussetzt. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Platzierung in einer offenen Justizvollzugsanstalt zum Zwecke einer therapeutischen Massnahme keine gesetzliche Grundlage hat. Die Vorinstanz habe die Tragweite des Entscheids 6B_481/2022 (auf den sie sich stützte) verkannt. Dieser Entscheid habe die Beschwerde hauptsächlich wegen unzureichender Begründung abgewiesen, nicht aber einen "extra legem"-Vollzug therapeutischer Massnahmen in offenen Justizvollzugsanstalten gutgeheissen. Das Bundesgericht betont, dass die Frage einer Abweichung vom Trennungsprinzip des Art. 58 Abs. 2 StGB eine Angelegenheit der Gesetzgebung sei.
  • Fehlerhafte Risikobeurteilung der Vorinstanz: Obwohl das Kantonsgericht ein hohes Rückfallrisiko des Beschwerdeführers annahm (was gemäss 7B_1284/2024 auch der Fall war), versäumte es die Vorinstanz, klar darzulegen, ob die für Art. 59 Abs. 3 StGB erforderliche hochgradige Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten weiterhin gegeben war. Wenn diese Wahrscheinlichkeit besteht, wäre nur eine geschlossene Einrichtung oder die geschlossene Abteilung einer offenen Anstalt zulässig, was die "Colonie ouverte" ausschliessen würde. Die Begründung der Vorinstanz, ein "cadrant" Umfeld sei für eine positive Entwicklung notwendig, rechtfertigt nicht die Platzierung in einer offenen Strafvollzugsanstalt für eine therapeutische Massnahme.
  • Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Die Bestätigung der Verlegung in die "Colonie ouverte" durch das Kantonsgericht erfolgte entgegen der gesetzlichen Bestimmungen. Die Beschwerde ist somit begründet.
V. Schlussfolgerung und Entscheid

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob das Urteil des Kantonsgerichts vom 7. Mai 2025 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die I. Verwaltungsrechtliche Kammer des Kantonsgerichts Freiburg zurück.

Die Vorinstanz muss nun erneut prüfen, ob die Bedingungen für einen ausserordentlichen Verbleib im geschlossenen Vollzug weiterhin erfüllt sind. Falls dies zutrifft, kämen nur eine geschlossene Anstalt oder die geschlossene Abteilung einer offenen Justizvollzugsanstalt in Frage. Falls die Bedingungen für einen geschlossenen Vollzug nicht mehr gegeben sind, muss der Beschwerdeführer in einer geeigneten psychiatrischen Anstalt oder einer Massnahmenvollzugsanstalt gemäss Art. 59 Abs. 2 StGB platziert werden. Das Kantonsgericht hat zudem neu über die Kosten der kantonalen Verfahren zu befinden.

Das Bundesgericht verzichtete auf die Erhebung von Gerichtskosten und sprach dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu.

VI. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  • Unzulässigkeit des offenen Strafvollzugs für therapeutische Massnahmen: Eine institutionelle therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB darf grundsätzlich nicht in einer offenen Abteilung einer Justizvollzugsanstalt vollzogen werden.
  • Trennungsprinzip: Art. 58 Abs. 2 StGB schreibt die strikte Trennung von Massnahmenvollzugsanstalten und Strafvollzugsanstalten vor.
  • Ausnahme des geschlossenen Vollzugs (Art. 59 Abs. 3 StGB): Nur bei hochgradiger Flucht- oder Rückfallgefahr gegen wesentliche Rechtsgüter ist ein Vollzug in einer geschlossenen Justizvollzugsanstalt oder einer geschlossenen Abteilung einer offenen Justizvollzugsanstalt zulässig, sofern die therapeutische Behandlung gewährleistet ist. Eine offene Abteilung einer Strafvollzugsanstalt fällt nicht unter diese Ausnahme.
  • Fehlerhafte Anwendung der Vorinstanz: Das Kantonsgericht hat die bundesgerichtliche Rechtsprechung (insbesondere 6B_481/2022) missverstanden und die Voraussetzungen für einen Massnahmenvollzug in einer offenen Strafvollzugsanstalt falsch beurteilt.
  • Massgeblicher Präzedenzfall: Das Urteil stützt sich auf den neueren, wegweisenden Entscheid 7B_278/2025, der klarstellt, dass eine Platzierung in einer offenen Justizvollzugsanstalt zu therapeutischen Zwecken keine gesetzliche Grundlage hat.
  • Auftrag an die Vorinstanz: Die Vorinstanz muss nun die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers neu beurteilen und ihn entweder in einer geeigneten therapeutischen Einrichtung oder, falls die Voraussetzungen für einen geschlossenen Vollzug weiterhin gegeben sind, in einer geschlossenen Massnahmenvollzugseinrichtung unterbringen.