Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 4A_77/2025 vom 16. Oktober 2025
I. Einleitung und Sachverhalt
Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer) vom 16. Oktober 2025 (Verfahren 4A_77/2025) betrifft einen Rekurs in Zivilsachen gegen einen Schiedsspruch, der in einem internationalen Schiedsverfahren in Genf ergangen ist. Die Rekurrentin, A._ LLC (Verkäuferin, mit Sitz in Oman), beantragte die Aufhebung des Schiedsspruchs, der sie zur Zahlung von USD 1'193'734.80 zuzüglich Zinsen an die Intimée, B._ LLC (Käuferin, mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten), verurteilte.
Dem Schiedsspruch lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem A._ LLC und B._ LLC am 24. November 2023 zwei Kaufverträge über 500 Tonnen Fischmehl und 100 Tonnen Fischöl abgeschlossen hatten, die schweizerischem Recht unterstanden. Die Käuferin B._ LLC zahlte der Verkäuferin A._ LLC insgesamt USD 1'193'734.80. Die Verkäuferin organisierte drei Seetransporte nach Griechenland. Die Begleitdokumente, darunter tierärztliche Gesundheitszeugnisse, wiesen die D.__ LLC als Produzentin aus und bestätigten, dass die Waren für die Tierfutterproduktion zertifiziert waren (mit EU-Zulassung "QC92/85").
Bei der Ankunft der ersten Lieferung in Griechenland stellten die Behörden Salmonellen im Fischmehl fest und verweigerten die Einfuhr. Später stellte sich heraus, dass die Produzentin D._ LLC nicht über die notwendige EU-Zulassung für die Herstellung von verarbeiteten tierischen Proteinen, die nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt sind (wie Fischmehl und Fischöl), verfügte. Die bestehende Zulassung bezog sich lediglich auf Produkte für den menschlichen Verzehr. Aus diesem Grund wurde die Einfuhr aller drei Lieferungen endgültig verweigert. Nach gescheiterten Verhandlungen initiierte die Käuferin B._ LLC ein Schiedsverfahren, das in einem Schiedsspruch des Einzelschiedsrichters vom 10. Januar 2025 mit der Verurteilung der Verkäuferin zur Rückzahlung des Kaufpreises endete.
II. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüft Rekurse gegen internationale Schiedssprüche gemäss Art. 77 Abs. 1 lit. a des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) in Verbindung mit den Art. 190 bis 192 des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG). Da der Schiedsstandort Genf war und keine der Parteien ihren Sitz in der Schweiz hatte, finden die Bestimmungen des 12. Kapitels des IPRG Anwendung (Art. 176 Abs. 1 IPRG).
Das Bundesgericht hob die strengen Anforderungen an die Überprüfung von Schiedssprüchen hervor:
- Begrenzte Kognition: Das Bundesgericht ist keine Appellationsinstanz und prüft nur die abschliessend in Art. 190 Abs. 2 IPRG aufgeführten Rügegründe.
- Rügeprinzip (Art. 77 Abs. 3 BGG): Die Rekurrentin muss die gerügten Mängel präzise darlegen und begründen, andernfalls sind appellatorische Rügen unzulässig. Nachträgliche Ergänzungen im Replikverfahren sind ausgeschlossen.
- Bindung an den Sachverhalt (Art. 77 Abs. 2 BGG): Das Bundesgericht ist an die Tatsachenfeststellungen des Schiedsgerichts gebunden und kann diese nicht von Amtes wegen korrigieren oder ergänzen, selbst wenn sie offensichtlich unrichtig sind. Eine Sachverhaltsprüfung erfolgt nur, wenn ein Rügegrund gemäss Art. 190 Abs. 2 IPRG direkt gegen die Sachverhaltsfeststellung vorgebracht wird.
Die Rekurrentin stützte ihren Aufhebungsantrag auf drei Hauptargumente:
1. Irreguläre Bestellung des Einzelschiedsrichters (Art. 190 Abs. 2 lit. a IPRG)
- Rüge der Rekurrentin: Die Rekurrentin machte geltend, das Sekretariat des Swiss Arbitration Centre habe ihr das Dossier vor der Ernennung des Schiedsrichters nicht per Post zugestellt, sondern nur elektronisch benachrichtigt. Dies widerspreche den vertraglichen Vereinbarungen über Postsendungen, weshalb die Bestellung des Schiedsrichters fehlerhaft sei.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht wies diese Rüge unter Verweis auf das Prinzip von Treu und Glauben und die Verwirkung (forclusion) ab. Gemäss ständiger Rechtsprechung (u.a. BGE 136 III 605) und der seit dem 1. Januar 2021 in Art. 182 Abs. 4 IPRG kodifizierten Regel muss eine Partei, die einen Verfahrensmangel feststellt oder bei gehöriger Sorgfalt feststellen könnte, diesen unverzüglich rügen. Andernfalls verwirkt sie das Recht, diesen Mangel später geltend zu machen. Die Intimée hatte konkret dargelegt, dass die Rekurrentin die Bestellung des Schiedsrichters während des Schiedsverfahrens nie beanstandet hatte, obwohl ihr das Dossier am 3. September 2024 per Post zugestellt worden war. Die nachträglichen Erklärungen der Rekurrentin hielt das Bundesgericht für irrelevant und unüberzeugend. Die Rüge wurde daher als verwirkt und unzulässig erachtet.
2. Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 190 Abs. 2 lit. d und e IPRG i.V.m. Art. 182 Abs. 3 IPRG)
- Rüge der Rekurrentin: Die Rekurrentin beanstandete, der Schiedsrichter habe das Verfahren in einer übermässig schnellen, "gestrafften" Weise geführt, die einem beschleunigten Verfahren ähnele. Sie rügte insbesondere sehr kurze Fristen, die Verweigerung einer Fristwiederherstellung, die Aufrechterhaltung der Anhörung trotz neuer Anwaltsbestellung und die Ablehnung verschiedener prozessualer Anpassungsgesuche. Zudem sei der Schiedsrichter ihr gegenüber intransigent gewesen, während er der Intimée gegenüber Nachsicht gezeigt habe (spontane Erinnerungen, Möglichkeit zur Ergänzung von Eingaben und Beweismitteln, Akzeptanz verspäteter Eingaben, sofortige Kostenerstattung).
- Begründung des Bundesgerichts: Auch diese Rüge wurde primär aufgrund der Verwirkung und des Prinzips von Treu und Glauben abgewiesen (erneut Art. 182 Abs. 4 IPRG). Das Bundesgericht hielt fest, dass die Rekurrentin, wenn sie die verfahrensleitenden Entscheide als Verletzung ihres Gehörs oder der Gleichbehandlung empfand, dies unverzüglich beim Schiedsrichter hätte geltend machen müssen. Da dies nicht geschehen ist und die Rekurrentin ihre "konstanten Bemühungen" während des Schiedsverfahrens nicht konkret belegen konnte, waren die Rügen unzulässig. Das Bundesgericht ergänzte, dass selbst bei Zulässigkeit die von der Rekurrentin vorgebrachten Argumente im Lichte der gesamten Umstände des Verfahrens und der überzeugenden Erläuterungen der Intimée keine Verletzung des rechtlichen Gehörs oder eine ungleiche Behandlung hätten begründen können.
3. Unvereinbarkeit mit dem materiellen Ordre public (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG)
- Rüge der Rekurrentin: Die Rekurrentin machte geltend, der angefochtene Schiedsspruch sei mit dem materiellen Ordre public unvereinbar, da er gegen die Prinzipien der Vertragstreue (pacta sunt servanda) und des guten Glaubens verstosse.
- Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht präzisierte die sehr restriktive Definition des materiellen Ordre public im Kontext der Schiedsgerichtsbarkeit. Ein Schiedsspruch ist demnach nur dann mit dem materiellen Ordre public unvereinbar, wenn er die wesentlichen und weithin anerkannten Werte missachtet, die nach schweizerischen Vorstellungen die Grundlage jeder Rechtsordnung bilden sollten (BGE 144 III 120 E. 5.1). Entscheidend ist das Ergebnis des Schiedsspruchs, nicht bloss die Begründung. Die Prüfung ist enger als eine Willkürkontrolle. Das Bundesgericht prüft nicht die materiell-rechtliche Würdigung des Schiedsrichters, sondern nur die Kompatibilität des Ergebnisses mit dem Ordre public.
- Zum Prinzip pacta sunt servanda: Dieses Prinzip wird im Sinne von Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG nur verletzt, wenn das Schiedsgericht sich im Widerspruch zu seiner eigenen Auslegung bezüglich Existenz oder Inhalt einer Vertragsklausel verhält, indem es eine verbindliche Klausel nicht anwendet oder umgekehrt eine nicht bindende auferlegt (BGE 4A_638/2024 vom 27. März 2025 E. 5.2). Der blosse Interpretationsprozess oder die daraus gezogenen rechtlichen Konsequenzen fallen nicht unter diesen Schutzbereich. Die Rekurrentin versuchte im Wesentlichen, über diese Rüge eine unzulässige materielle Rechtsprüfung zu erwirken.
- Schiedsrichterliche Begründung im vorliegenden Fall: Der Schiedsrichter hatte festgestellt, dass die Kaufverträge eine Klausel enthielten, wonach die Qualität der Waren den griechischen Veterinärvorschriften entsprechen müsse und die Kosten im Falle einer Einfuhrverweigerung die Verkäuferin zu tragen habe. Die Einfuhr wurde verweigert, weil die Produzentin nicht die notwendige EU-Zulassung für Tierfutterprodukte besass. Der Schiedsrichter stellte fest, dass die Parteien dieses Risiko in den Verhandlungen besprochen und vereinbart hatten, dass die Verkäuferin die Kosten einer allfälligen Importverweigerung tragen sollte. Die Parteien seien sich bewusst gewesen, dass das Fehlen der spezifischen Zulassung nicht automatisch zu einer Verweigerung führen, aber zusätzliche Kontrollen nach sich ziehen könnte. Auf dieser Grundlage verurteilte der Schiedsrichter die Verkäuferin zur Rückzahlung.
- Anwendung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht sah keine Verletzung des pacta sunt servanda-Prinzips im engen Sinne. Der Schiedsrichter hatte keine vertragliche Bestimmung in Widerspruch zu seiner eigenen Interpretation angewendet oder nicht angewendet. Die Argumentation der Rekurrentin war unklar, appellatorisch und zeigte keinen mit dem Prinzip der Vertragstreue unvereinbaren Widerspruch. Die Behauptung der Rekurrentin, der Schiedsrichter habe sich auf einen Vertrag zwischen Dritten gestützt, wurde als unbegründet zurückgewiesen. Die Rüge wurde daher als unzulässig bzw. unbegründet abgewiesen.
III. Fazit und wesentliche Punkte
Der Rekurs wurde, soweit er überhaupt zulässig war, abgewiesen. Die Rekurrentin wurde kostenpflichtig.
Zusammenfassende wesentliche Punkte:
- Strenge Anforderungen an die Rüge: Das Bundesgericht bestätigte seine restriktive Praxis bei der Überprüfung internationaler Schiedssprüche, insbesondere die Bindung an den Sachverhalt und das Rügeprinzip, das appellatorische Kritik ausschliesst.
- Verwirkung prozeduraler Rügen: Die Rügen bezüglich der irregulären Schiedsrichterbestellung sowie der Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Gleichbehandlungsgrundsatzes wurden wegen Verwirkung abgewiesen. Das Bundesgericht betonte, dass Verfahrensmängel (wie verspätete oder unzureichende Benachrichtigungen, zu straffe Prozessführung, ungleiche Behandlung) gemäss dem Grundsatz von Treu und Glauben und Art. 182 Abs. 4 IPRG (seit 2021) unverzüglich im Schiedsverfahren selbst gerügt werden müssen, da das Recht, sie später geltend zu machen, sonst verloren geht.
- Restriktive Auslegung des materiellen Ordre public: Die Rüge der Unvereinbarkeit mit dem materiellen Ordre public, insbesondere die Verletzung von pacta sunt servanda, wurde abgewiesen. Das Bundesgericht bekräftigte, dass eine solche Verletzung nur vorliegt, wenn der Schiedsrichter sich im Widerspruch zu seiner eigenen Auslegung einer Vertragsklausel verhält. Die blosse Beanstandung der materiell-rechtlichen Beurteilung oder des Interpretationsprozesses selbst fällt nicht darunter und kann nicht zur Aufhebung eines Schiedsspruchs führen. Im konkreten Fall hatte der Schiedsrichter festgestellt, dass die Parteien das Risiko der Importverweigerung aufgrund fehlender Zulassungen kannten und die Kostenfolgen vertraglich dem Verkäufer zugewiesen hatten, was kein Widerspruch zum Ordre public darstellte.