Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_508/2024 vom 4. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 2C_508/2024 vom 4. November 2025 I. Einleitung und Sachverhalt

Das Urteil des Bundesgerichts 2C_508/2024 vom 4. November 2025 befasst sich mit der Frage der sachlichen Zuständigkeit im Kontext einer Staatshaftungsklage und der Abgrenzung zwischen kantonalem Haftungsrecht und vorrangigen Bestimmungen des Bundesrechts, insbesondere des Nachbar- und Enteignungsrechts.

Der Beschwerdeführer, A._, ist Eigentümer eines Hauses in der Gasse V._ in U._. Im Zeitraum ab Juni 2020 erneuerten die Technischen Gemeindebetriebe U._ (eine selbständige öffentlich-rechtliche Anstalt der Politischen Gemeinde U._) verschiedene Leitungen sowie Hausanschlüsse im Bereich der Gasse V._, die im Gemeingebrauch steht. Im Rahmen dieser Tiefbauarbeiten, insbesondere Grab- und Werkleitungsarbeiten, kam es zu Erschütterungen. Auch wurden die Fundamente der Liegenschaften für die Hausanschlüsse durchstossen. Nach Abschluss der Arbeiten zeigten sich Risse an mehreren Häusern, darunter auch an der Liegenschaft des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer erhob am 8. Dezember 2023 eine Staatshaftungsklage beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau gegen die Technischen Gemeindebetriebe U._ und die Politische Gemeinde U._, um Schadenersatz in der Höhe von Fr. 162'088.65 geltend zu machen. Das Verwaltungsgericht trat mit Urteil vom 10. Juli 2024 auf die Klage nicht ein. Es begründete dies damit, dass es sich nicht um eine Angelegenheit des kantonalen Staatshaftungsrechts handle, sondern um eine privatrechtliche (Nachbarrecht) oder enteignungsrechtliche Streitigkeit, für die es nicht sachlich zuständig sei. Gegen diesen Nichteintretensentscheid legte der Beschwerdeführer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein.

II. Bundesgerichtliche Prüfung

Das Bundesgericht hatte primär zu prüfen, ob die Vorinstanz (Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau) zu Recht ihre sachliche Zuständigkeit verneint und auf die Staatshaftungsklage nicht eingetreten ist.

A. Sachverhaltsfeststellung und Gehörsrecht (Erwägung 4)

Der Beschwerdeführer rügte zunächst eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV) und eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) durch die Vorinstanz. Er machte geltend, die Vorinstanz habe seine Vorbringen zur Schadensursache unberücksichtigt gelassen und angebotene Beweismittel nicht abgenommen.

  1. Massgebliche Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz zur Überzeugung gelangte, die Risse am Haus des Beschwerdeführers seien primär durch Erschütterungen im Rahmen der Grab- und Werkleitungsarbeiten in der Gasse V.__ verursacht worden und nicht hauptsächlich durch die Durchstossung des Fundaments für den Hausanschluss.

  2. Beweiswürdigung der Vorinstanz (durch das Bundesgericht bestätigt):

    • Die Vorinstanz stützte ihre Feststellung auf den Zeitplan der Bauarbeiten (Bauprotokolle), welche zeigten, dass die Arbeiten an den Hausanschlüssen bereits Ende September 2020 abgeschlossen waren, während die Rissbildungen im Oktober und November 2020 während der Tiefbauarbeiten in der Gasse gemeldet wurden.
    • Berichte der vom Beschwerdeführer beauftragten Gutachter C._ und D._ sprachen ebenfalls von "Grab- und Werkleitungsarbeiten entlang der gassenseitigen Gebäudeflucht" und "erheblichen Erschütterungen" ab Oktober 2020 als Ursache der Risse. Diese Gutachten bezogen sich explizit auf gassenseitige Erschütterungen und nicht auf Arbeiten direkt an der Hausfassade.
    • Ein Schreiben der Anwohner vom November 2020, darunter des Beschwerdeführers, erwähnte Schäden durch "Arbeiten in den letzten Wochen vor den und zu den" Häusern, was ebenfalls auf die späteren Tiefbauarbeiten in der Gasse hinwies.
    • Der Bericht des Gutachters B.__, der Erschütterungen als Schadensursache ausschloss, wurde von der Vorinstanz als eine unter mehreren Meinungen gewürdigt und durfte im Kontext der übrigen Beweismittel anders beurteilt werden.
  3. Bundesgerichtliche Würdigung der Rügen:

    • Das Bundesgericht befand, dass die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nicht willkürlich sei. Die Vorinstanz durfte aus den vorhandenen Beweismitteln schliessen, dass die Erschütterungen aus den Tiefbauarbeiten in der Gasse die Hauptursache der Schäden waren.
    • Auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde verneint. Die Vorinstanz durfte in antizipierter Beweiswürdigung auf die mündliche Befragung der Gutachter, einen gerichtlichen Augenschein oder eine Oberexpertise verzichten, da sie aufgrund der vorliegenden Beweismittel (Bauprotokolle, schriftliche Gutachten) bereits ihre Überzeugung gebildet hatte und willkürfrei annehmen konnte, weitere Beweiserhebungen würden das Ergebnis nicht ändern. Die Begründung des Entscheids war zudem ausreichend, um dem Beschwerdeführer eine Anfechtung zu ermöglichen.

    Fazit zur Sachverhaltsfeststellung: Der vom Verwaltungsgericht festgestellte Sachverhalt, wonach die Risse am Haus des Beschwerdeführers primär durch Erschütterungen im Rahmen der Grab- und Werkleitungsarbeiten in der Gasse V.__ verursacht wurden, ist für das Bundesgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG).

B. Rechtliche Beurteilung der Zuständigkeit (Erwägung 5)

Der zentrale rechtliche Streitpunkt war, ob für den vorliegenden Schaden das kantonale Verantwortlichkeitsgesetz (VerantwG/TG) oder vorrangige Bestimmungen des Bundesrechts anwendbar sind.

  1. Grundsatz der Subsidiarität des kantonalen Staatshaftungsrechts:

    • Das Bundesgericht erinnerte daran, dass die Haftung der öffentlichen Gemeinwesen gegenüber Privaten grundsätzlich durch die Art. 41 ff. OR geregelt wird. Die Kantone können jedoch gestützt auf Art. 59 Abs. 1 ZGB und Art. 61 Abs. 1 OR eine spezifische Regelung im kantonalen öffentlichen Recht erlassen, wie es der Kanton Thurgau mit seinem Verantwortlichkeitsgesetz getan hat (§ 4 Abs. 1 VerantwG/TG).
    • Von dieser kantonalen Regelungskompetenz sind jedoch Fälle ausgenommen, in denen eine bundesrechtliche Haftungsnorm in einem Spezialgesetz existiert, die auch für öffentliche Gemeinwesen gilt. Solche Bundesrechtsnormen gehen dem kantonalen Staatshaftungsrecht gemäss Art. 49 BV vor (ständige Rechtsprechung, vgl. BGE 150 III 332 E. 2.3.3; 144 II 281 E. 4.1).
  2. Vorrang von Bundesrecht bei Immissionen und Werkhaftung:

    • Das Bundesgericht hob hervor, dass insbesondere die besonderen Bestimmungen des Obligationenrechts über die Haftung des Werkeigentümers gemäss Art. 58 OR sowie Art. 679 i.V.m. Art. 684 ZGB über die Grundeigentümerhaftung durch übermässige Immissionen dem Staatshaftungsrecht vorgehen (vgl. BGE 144 II 281 E. 4.1; 130 III 736 E. 1.4).
    • Bestehen übermässige Immissionen, die unvermeidbar sind oder nur mit unverhältnismässigem Kostenaufwand vermieden werden können, so werden diese grundsätzlich nach Enteignungsrecht entschädigt (vgl. BGE 145 I 250 E. 5.2; 132 III 49 E. 2).
  3. Anwendung auf den konkreten Fall:

    • Gestützt auf den verbindlich festgestellten Sachverhalt (Schäden durch Erschütterungen aus Arbeiten in der Gasse V.__, die ein Nachbargrundstück darstellt), verneinte das Bundesgericht die Anwendbarkeit des kantonalen Haftungsrechts.
    • Der Schaden entstand nicht durch eine direkte Einwirkung auf das Eigentum des Beschwerdeführers im Sinne einer unmittelbaren Staatstätigkeit, sondern durch Immissionen (Erschütterungen), die vom Nachbargrundstück ausgingen.
    • Für solche Immissionsschäden sind gemäss konstanter bundesgerichtlicher Rechtsprechung die spezialgesetzlichen Bestimmungen des Bundesrechts (Nachbarrecht des ZGB oder Enteignungsrecht) vorrangig gegenüber dem kantonalen Staatshaftungsrecht anwendbar.
  4. Konsequenz für die Zuständigkeit:

    • Da das kantonale Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau gemäss kantonalem Recht nur für Klagen gemäss dem kantonalen Verantwortlichkeitsgesetz zuständig ist (§ 64 Ziff. 4 VRG/TG), nicht aber für Klagen gestützt auf das ZGB-Nachbarrecht oder das Enteignungsrecht, hat es seine sachliche Unzuständigkeit zu Recht festgestellt.
    • Der Nichteintretensentscheid der Vorinstanz war somit mit Bundesrecht vereinbar und auch nicht willkürlich. Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 ZGB lag ebenfalls nicht vor, da diese Bestimmung gerade die Anwendbarkeit des Bundesrechts in dessen Domäne statuiert.
III. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab. Die Vorinstanz hat die Anwendbarkeit des kantonalen Verantwortlichkeitsgesetzes zu Recht verneint und ihre sachliche Zuständigkeit korrekterweise abgelehnt, da die vorliegende Streitigkeit aufgrund der Schadensursache (Immissionen von einem Nachbargrundstück) nach vorrangigem Bundesrecht (ZGB-Nachbarrecht oder Enteignungsrecht) zu beurteilen ist.

IV. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigte den Nichteintretensentscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau. Wesentlich für das Urteil war die Feststellung, dass die Schäden am Haus des Beschwerdeführers primär durch Erschütterungen aus Tiefbauarbeiten auf dem angrenzenden öffentlichen Grundstück (Gasse) verursacht wurden und nicht durch direkte Arbeiten am Haus selbst. Rechtlich ist hierbei der Grundsatz der Subsidiarität des kantonalen Staatshaftungsrechts massgebend: Für Schäden, die durch Immissionen von Nachbargrundstücken verursacht werden, haben die spezialgesetzlichen Bestimmungen des Bundesrechts (Art. 679/684 ZGB - Nachbarrecht oder das Enteignungsrecht) Vorrang vor dem kantonalen Staatshaftungsrecht. Da das Verwaltungsgericht nur für letzteres zuständig ist, hat es seine sachliche Unzuständigkeit zu Recht angenommen und auf die Klage nicht eingetreten.