Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_973/2024 vom 20. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgerichtsurteil 6B_973/2024 vom 20. November 2025

Parteien: * Beschwerdeführer: A.__, vertreten durch Rechtsanwalt Timotheus Winzenried * Beschwerdegegnerin: Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern

Gegenstand: Strafzumessung; Landesverweisung und deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (Widerhandlungen gegen das BetmG; Geldwäscherei)

Vorinstanz: Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Urteil vom 16. Mai 2024 (SK 23 392-394 MAJ)

I. Sachverhalt und Vorinstanzen

Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland sprach A.__ am 29. Juni 2023 der Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG), teilweise mengenmässig und gewerbsmässig qualifiziert, sowie der Geldwäscherei schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 36 Monaten (18 Monate vollziehbar, 18 Monate bedingt bei einer Probezeit von 4 Jahren) und verzichtete auf eine Landesverweisung.

Die Generalstaatsanwaltschaft erhob Berufung, die sie auf die Strafzumessung und die Nichtanordnung der Landesverweisung beschränkte.

Das Obergericht des Kantons Bern stellte am 16. Mai 2024 die teilweise Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils fest. Es verurteilte A.__ für die rechtskräftigen Schuldsprüche zu einer Freiheitsstrafe von 48 Monaten (unbedingt) und einer Busse von Fr. 500.--. Des Weiteren ordnete das Obergericht eine Landesverweisung für die Dauer von 8 Jahren an und die Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem (SIS).

Dem Urteil des Obergerichts lagen zusammengefasst folgende Sachverhalte zugrunde: * Drogenhandel Kokain: Vom 1. April 2020 bis 4. Januar 2022 veräusserte A.__ 911 Gramm Kokaingemisch (91% Reinheit), traf Anstalten zur Veräusserung weiterer 4.7 Gramm, erzielte mindestens Fr. 50'600.-- Gewinn und setzte insgesamt mindestens 829 Gramm reines Kokain um. * Drogenhandel Marihuana: Vom 2. Februar 2021 bis 4. Januar 2022 veräusserte er mindestens 2'390 Gramm Marihuana, traf Anstalten zur Veräusserung weiterer 24.5 Gramm und erzielte mindestens Fr. 40'259.-- Gewinn. * Drogenhandel MDMA: Von April 2020 bis 4. Januar 2022 erwarb und veräusserte er rund 10 Gramm MDMA. * Drogenkonsum: Vom 29. Juni 2020 bis 4. Januar 2022 konsumierte er Marihuana, Kokain und Ecstasy. * Geldwäscherei: Vom 1. April 2020 bis 4. Januar 2022 setzte er aus dem Drogenhandel stammende Finanzmittel (mindestens Fr. 84'849.--) für Alltagsbedürfnisse, Eigenkonsum und einen "überschwänglichen Lebensstil" ein.

II. Rechtsbegehren des Beschwerdeführers vor Bundesgericht

A.__ beantragte im Wesentlichen die vollumfängliche Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils bezüglich der unbedingten Freiheitsstrafe, der Landesverweisung und der SIS-Ausschreibung. Er verlangte eine Freiheitsstrafe von 36 Monaten (18 Monate vollziehbar, 18 Monate bedingt) und beantragte, von einer Landesverweisung abzusehen.

III. Massgebende Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Beschwerde in zwei Hauptpunkten:

1. Zur Konkurrenzlehre und Beschränkung der Berufung auf die Strafzumessung (Rüge des Beschwerdeführers: Handlungsmehrheit statt Handlungseinheit)

  • Argument des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz sei willkürlich davon ausgegangen, seine Handelstätigkeit habe nicht auf einem einheitlichen Willensakt beruht. Sie habe Art. 49 StGB (Asperationsprinzip) falsch angewandt, indem sie eine Gesamtfreiheitsstrafe statt einer einzigen "Einsatzstrafe" für eine angebliche Handlungseinheit festlegte.
  • Grundlagen der Strafzumessung und Konkurrenz: Das Bundesgericht verweist auf die bekannten Grundsätze der Strafzumessung gemäss Art. 47 ff. StGB und der Bildung der Gesamtstrafe nach Art. 49 Abs. 1 StGB (Asperationsprinzip bei echter Konkurrenz).
  • Umfang der Berufungsprüfung und Rechtskraft: Entscheidend ist hier die Auslegung von Art. 399 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 StPO (Beschränkung der Berufung) sowie Art. 404 Abs. 1 StPO (Kognition des Berufungsgerichts).
    • Das Bundesgericht präzisiert in seinem zur Publikation vorgesehenen Urteil 6B_687/2024 vom 12. September 2025, dass eine auf die Strafzumessung beschränkte Berufung dazu führt, dass der von der ersten Instanz festgestellte Schuldspruch rechtskräftig wird.
    • Als Folge davon können Sachverhaltselemente, die den Schuldspruch tragen (insbesondere die inneren Tatsachen wie Wissen und Willen des Täters), im Berufungsverfahren nicht mehr angegriffen werden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass einzelne als strafbar beurteilte Lebenssachverhalte sich nicht ereignet hätten, da dies im Widerspruch zum nicht angefochtenen Schuldpunkt stünde. Abweichungen sind nur möglich, wenn es sich weiterhin um denselben Lebenssachverhalt handelt und kein neuer begründet wird.
  • Anwendung im vorliegenden Fall:
    • Die Generalstaatsanwaltschaft hatte ihre Berufung auf die Strafzumessung und die Landesverweisung beschränkt. Der Beschwerdeführer selbst beantragte im vorinstanzlichen Verfahren die Feststellung der Rechtskraft des erstinstanzlichen Schuldspruchs.
    • Das Bundesgericht stellt fest, dass das Regionalgericht bereits in seinem Dispositiv (Ziff. II.1.1-1.4) unzweifelhaft eine Handlungsmehrheit angenommen hat. Dies ergibt sich aus der expliziten Auflistung verschiedener Straftaten (Veräusserung von Kokain, Marihuana, MDMA; Konsum von Drogen) mit unterschiedlichen Betäubungsmitteln, Tathandlungen, sich nur teilweise überschneidenden Zeiträumen und vor allem verschiedenen Qualifikationsgründen (mengenmässig/gewerbsmässig für Kokain; gewerbsmässig für Marihuana; keine Qualifikation für MDMA).
    • Das Regionalgericht hatte ausdrücklich festgehalten, dass bei Cannabisprodukten die mengenmässige Qualifikation ausgeschlossen ist (Verweis auf BGE 145 IV 312 E. 2.1.1 und 2.1.3), was bereits eine separate Beurteilung der Delikte impliziert.
    • Eine Annahme einer Handlungseinheit hätte den tragenden Sachverhaltselementen der erstinstanzlichen Schuldsprüche (bezüglich Wissen und Willen des Beschwerdeführers) den Boden entzogen.
    • Zudem wäre die Forderung nach einer "gemeinsamen Einsatzstrafe" für Straftaten mit unterschiedlich abstrakter Schwere und verschiedenen Strafrahmen (z.B. Erwerb und Veräusserung von MDMA mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe vs. qualifizierter Drogenhandel mit nicht unter einem Jahr) mit der Methodik des Art. 49 Abs. 1 StGB unvereinbar.
  • Fazit des Bundesgerichts: Die Vorinstanz durfte und musste von einer Tatmehrheit ausgehen. Die Rüge des Beschwerdeführers zielt auf den bereits rechtskräftigen Schuldpunkt und ist unbegründet, soweit darauf eingetreten werden kann.

2. Zur Landesverweisung und dem Non-Refoulement-Prinzip (Rüge des Beschwerdeführers: Unzumutbarkeit der Wegweisung nach Libyen, Art. 3 EMRK)

  • Argument des Beschwerdeführers: Eine Wegweisung nach Libyen sei unzumutbar, stelle ein definitives Vollzugshindernis dar ("unechter Härtefall") und verletze Art. 3 EMRK (Folterverbot).
  • Grundlagen der Landesverweisung und des Non-Refoulement-Prinzips:
    • Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB (obligatorische Landesverweisung): Die Voraussetzungen sind erfüllt, da der Beschwerdeführer wegen qualifizierter BetmG-Verstösse verurteilt wurde.
    • Art. 66a Abs. 2 StGB (Härtefallklausel): Eine Ausnahme ist nur bei einem schweren persönlichen Härtefall und einem Überwiegen der privaten gegenüber den öffentlichen Interessen möglich.
    • Art. 66d Abs. 1 StGB (Vollzugshindernisse):
      • a) Flüchtlingsrechtliches Non-Refoulement (Art. 66d Abs. 1 lit. a StGB i.V.m. Art. 5 Abs. 2 AsylG): Dieses Gebot ist relativ. Für Personen, die sich gemäss Art. 5 Abs. 2 AsylG nicht auf das Rückschiebungsverbot berufen können (z.B. weil sie eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit darstellen), ist eine Landesverweisung zulässig.
      • b) Menschenrechtliches Non-Refoulement (Art. 66d Abs. 1 lit. b StGB i.V.m. Art. 3 EMRK, Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 UN-Übereinkommen gegen Folter): Dieses Gebot ist absolut und verhindert eine Ausschaffung unabhängig vom Status oder den begangenen Straftaten. Die Schwelle ist jedoch hoch: Es muss ein "reelles Risiko" für Folter oder grausame, unmenschliche Behandlung oder Bestrafung individuell-konkret und stichhaltig glaubhaft gemacht werden.
    • Rolle des Sachgerichts: Das Sachgericht muss definitive Vollzugshindernisse prüfen, sofern diese stabil und die Durchführbarkeit der Landesverweisung definitiv bestimmbar sind. Liegt ein solches Hindernis vor, ist auf die Anordnung der Landesverweisung zu verzichten. Für noch nicht feststehende Hindernisse sind die Vollzugsbehörden zuständig.
  • Begründung der Vorinstanz:
    • Der Beschwerdeführer ist anerkannter Flüchtling (gemäss Art. 51 Abs. 1 AsylG, d.h. Familienasyl, nicht individuelle Verfolgung).
    • Aufgrund der Schwere der Delikte (qualifizierte BetmG-Verstösse, 48 Monate Freiheitsstrafe) kann er sich jedoch nicht auf das flüchtlingsrechtliche Non-Refoulement nach Art. 5 Abs. 2 AsylG berufen. Die Landesverweisung ist daher mit der Flüchtlingskonvention vereinbar.
    • Ein menschenrechtliches Non-Refoulement gemäss Art. 3 EMRK wurde verneint. Die Vorinstanz stützte sich auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (insbesondere Referenzurteil D-6946/2013 vom 23. März 2018), wonach die allgemeine Menschenrechtssituation in Libyen den Wegweisungsvollzug nicht generell unzulässig erscheinen lässt.
    • Der Beschwerdeführer habe keine individuell-konkrete Gefährdung glaubhaft gemacht. Seine Äusserungen (Angst vor Libyen, Entführungen, Sklaverei, Vater durch Gaddafi-Regime zum Tode verurteilt) seien allgemein.
    • Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer 2014 nach Libyen gereist ist, spricht gegen ein individuelles Risiko. Die Gründe für die Asylgewährung beträfen seinen Vater, nicht ihn selbst.
  • Überprüfung durch das Bundesgericht:
    • Das Bundesgericht rügt, dass der Beschwerdeführer keine willkürliche Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz geltend macht, sondern frei wie in einem Berufungsverfahren plädiert, was unzulässig ist (appellatorische Kritik). Er setzt sich nicht rechtsgenüglich mit den vorinstanzlichen Argumenten auseinander, insbesondere nicht mit seiner Reise nach Libyen im Jahr 2014.
    • Der Beschwerdeführer bringt auch vor Bundesgericht keine Gründe vor, die ein individuell-konkretes Risiko im Sinne von Art. 3 EMRK stichhaltig glaubhaft machen würden. Die Behauptung, die Wegweisung erfolge in eine von ehemaligen Gaddafi-Soldaten kontrollierte Stadt, reicht nicht aus, da er keine konkrete Gefahr für sich selbst darlegt.
    • Das Bundesgericht bestätigt zudem, dass die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zumutbarkeit der Wegweisung nach Libyen nicht überholt ist. Es verweist auf seine eigene aktuelle Praxis (Urteile 6B_494/2025 vom 6. Oktober 2025 E. 5.4 und 2C_99/2024 vom 26. Juli 2024 E. 3.2.4) sowie auf ein kürzliches Urteil des EGMR (A.A. gegen Schweden vom 13. Juli 2023, Nr. 4677/20, § 50-52), wonach die Sicherheitslage in Libyen zwar prekär, aber nicht mehr so ist, dass die Rückkehr libyscher Staatsbürger generell ein ernsthaftes Risiko darstellt.
    • Angesichts der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers (alleinstehend, kinderlos, gesund, 29 Jahre alt, arabischsprachig, verwandtschaftliches Netz in W.__) ist die Rückkehr nach Libyen zumutbar.
  • Fazit des Bundesgerichts: Die Verneinung eines definitiven Vollzugshindernisses durch die Vorinstanz ist bundesrechtskonform und im Einklang mit der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK.

3. Zur Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS)

Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag, von einer SIS-Ausschreibung abzusehen, nicht. Das Bundesgericht trat daher mangels Begründung (Art. 42 Abs. 2 BGG) nicht darauf ein.

IV. Endergebnis des Bundesgerichts

Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer auferlegt, wobei sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung abgewiesen wird, da die Beschwerde von vornherein als aussichtslos erachtet wurde.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung von A._ zu 48 Monaten Freiheitsstrafe und einer Landesverweisung von 8 Jahren nach Libyen. Es wies die Beschwerde des A._ ab, da:

  1. Strafzumessung und Konkurrenz: Die Vorinstanz zu Recht von einer Handlungsmehrheit bei den Drogendelikten ausging und nicht von einer Handlungseinheit. Der Schuldspruch, der eine Handlungsmehrheit feststellte, war aufgrund der beschränkten Berufung bereits rechtskräftig und konnte nicht mehr angefochten werden.
  2. Landesverweisung und Non-Refoulement: Es lag kein definitives Vollzugshindernis für die Landesverweisung nach Libyen vor. Der Beschwerdeführer konnte sich aufgrund der Schwere seiner Delikte nicht auf das flüchtlingsrechtliche Non-Refoulement berufen, und ein individuelles, konkretes Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK (Folterverbot) bei einer Rückkehr nach Libyen wurde nicht glaubhaft gemacht, insbesondere vor dem Hintergrund seiner früheren Reise nach Libyen und aktueller Rechtsprechung, die keine generelle Unzumutbarkeit mehr annimmt.
  3. SIS-Ausschreibung: Die Rüge gegen die SIS-Ausschreibung wurde mangels Begründung nicht geprüft.