Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_382/2025 vom 25. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das Urteil 9C_382/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 25. November 2025 detailliert zusammen:

Einleitung

Das vorliegende Urteil betrifft einen Beschwerdeführer (geb. 1961), der seit 1977 im elterlichen Baugeschäft tätig war und sich im Juli 2020 wegen Kniebeschwerden bei der Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug anmeldete. Er war in seiner angestammten Tätigkeit seit Herbst 2020 zu 75% arbeitsunfähig, für leichte, wechselbelastende Arbeiten zu 50%. Die IV-Stelle Solothurn sprach ihm mit Verfügung vom 21. August 2024 eine halbe Invalidenrente ab Januar 2021, eine Viertelsrente ab Januar 2022 und eine ganze Rente ab März 2023 zu. Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn bestätigte diese Bemessung und wies die Beschwerde des Versicherten ab, der eine durchgehend ganze Invalidenrente ab Januar 2021 forderte. Die Kernfrage des bundesgerichtlichen Verfahrens ist die Bemessung des Invalideneinkommens für die Perioden Januar bis Dezember 2021 sowie Januar 2022 bis Februar 2023, insbesondere ob in diesem Zeitraum eine Soziallohnkomponente vom tatsächlich erzielten Einkommen abzuziehen sei.

Rechtliche Grundlagen

  1. Intertemporales Recht: Das Bundesgericht stellt fest, dass ab dem 1. Januar 2022 die revidierte Fassung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) und der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) in Kraft traten (Weiterentwicklung der IV, WEIV). Da jedoch Gegenstand des Verfahrens Rentenleistungen ab Januar 2021 sind und der Beschwerdeführer 1961 geboren ist, kommt aufgrund der Übergangsbestimmungen zur Änderung des IVG vom 19. Juni 2020 (lit. b Abs. 1 und lit. c) das bisherige Recht zur Anwendung. Dies ist entscheidend für die Beurteilung des Soziallohns.

  2. Invaliditätsbemessung und Invalideneinkommen:

    • Für die Festsetzung des Invalideneinkommens (Art. 16 ATSG, Art. 28a Abs. 1 IVG) ist primär die konkret erzielte berufliche Situation massgebend (BGE 148 V 174 E. 6.2).
    • Gemäss der seit Anfang 2022 gültigen Fassung der IVV (Art. 26bis Abs. 1 IVV, Art. 25 Abs. 1 IVV) soll ein nach Eintritt der Invalidität erzieltes Erwerbseinkommen als Invalideneinkommen angerechnet werden, sofern die verbleibende funktionale Leistungsfähigkeit bestmöglich verwertet wird. Demnach würde auch ein Soziallohn fortan grundsätzlich in das Invalideneinkommen einbezogen (Urteil 9C_418/2022 vom 19. August 2024 E. 5.3.3).
    • Massgebend für den vorliegenden Fall ist jedoch die bisherige Rechtsprechung (und Art. 25 Abs. 1 IVV in der bis Ende 2021 geltenden Fassung): Danach galt ein tatsächlich erzielter Verdienst nur dann als Invalidenlohn, wenn die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit ausübt, bei der besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind, anzunehmen ist, dass die verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausgeschöpft wird, und zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn erscheint (BGE 148 V 174 E. 6.2; 135 V 297 E. 5.2; Urteil 8C_603/2023 vom 25. September 2024 E. 4.2.1). Lohnbestandteile, für die der Arbeitnehmer wegen beschränkter Arbeitsfähigkeit nachweislich keine Gegenleistung erbringen kann, werden demnach nicht als Invalideneinkommen herangezogen (Art. 25 Abs. 1 lit. b aIVV).
  3. Soziallohn:

    • Soziallohn liegt vor, wenn Teile des ausbezahlten Lohns nicht als Gegenleistung einer Arbeitsleistung erscheinen, sondern aus sozialen Erwägungen gewährt werden.
    • An den Nachweis von Soziallohn werden hohe Anforderungen gestellt, da ausbezahlte Löhne in der Regel als Äquivalent einer erbrachten Arbeitsleistung gelten (BGE 141 V 351 E. 4.2).
    • Indizien für eine freiwillige "Sozialleistung" können insbesondere verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Arbeitgeber und versicherter Person oder eine lange Dauer des Arbeitsverhältnisses sein. Ein mit Soziallohn vergleichbarer Sachverhalt liegt auch vor, wenn ein Versicherter als Angestellter und Mitinhaber eines Familienbetriebs ein deutlich über den branchenüblichen Ansätzen liegendes Gehalt bezieht (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 283/95 vom 21. Februar 1996 E. 5b).

Sachverhalt und Vorinstanzliche Erwägungen

Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer in seiner angestammten Tätigkeit als Tiefbauarbeiter/Baumaschinenführer seit Ende Oktober 2020 weitgehend arbeitsunfähig war, in einer angepassten Tätigkeit (körperlich leichte, wechselbelastende Arbeiten) jedoch zu 50% arbeitsfähig. Das Valideneinkommen wurde anhand des durchschnittlichen Einkommens der letzten fünf Jahre (ca. CHF 99'000.-) ermittelt, das Invalideneinkommen basierend auf den tatsächlich im Individuellen Konto (IK) verbuchten Einkommen (2021: CHF 47'562.-; 2022: CHF 56'136.-).

Der Beschwerdeführer machte geltend, die im IK aufgeführten Werte entsprächen nicht der tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung, da ihm wegen seiner gesundheitlichen Einschränkungen und seiner langjährigen Treue zum Familienbetrieb ein Soziallohn bezahlt worden sei. Das Arbeitsverhältnis sei erst im Februar 2023 aufgelöst worden, obwohl er bereits seit 2020 die schwere Arbeit nicht mehr ausüben konnte und nur noch für leichte Tätigkeiten im Werkhof einsetzbar gewesen sei (Magaziner, Reinigungskraft).

Die Vorinstanz würdigte diese Vorbringen wie folgt: * Die langjährige Dauer des Arbeitsverhältnisses im Familienunternehmen indiziere zwar einen Soziallohn. * Im Arbeitgeberfragebogen sei jedoch kein Soziallohn vermerkt worden. * Das Schreiben der Arbeitgeberin vom 19. September 2024 sei mit Vorsicht zu würdigen, da die Angaben von Eigeninteressen beeinflusst sein könnten. * Entscheidend sei, dass der Beschwerdeführer bis zum 3. November 2021 im Handelsregister als Verwaltungsrat und Mitglied der Geschäftsleitung mit Kollektivunterschrift zu zweien eingetragen war. Daraus schloss die Vorinstanz, er sei bis dahin nicht nur operativ tätig gewesen, sondern zumindest auch an strategischen Entscheidungen der Firma beteiligt gewesen. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb ihm die Kollektivunterschrift eingeräumt wurde, wenn er nach eigenen Angaben in administrative Angelegenheiten "mehrheitlich nicht involviert" gewesen sein solle. * Zudem seien die 2021 und 2022 bezogenen Krankentaggelder bei der Berechnung des Invalideneinkommens korrekt nicht berücksichtigt worden. * Insgesamt kam die Vorinstanz zum Schluss, dass die Vermutung, wonach der entrichtete Lohn der erbrachten Arbeitsleistung entspreche, nicht widerlegt sei.

Rügen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer beanstandete die vorinstanzlichen Erwägungen. Er argumentierte, dass nach über 40 Jahren Schwerstarbeit die Zuweisung eines neuen Betätigungsfeldes ausgeschlossen gewesen sei. Er rügte, die Vorinstanz habe nicht begründet, weshalb die Angaben der Arbeitgeberin mit Vorsicht zu würdigen seien. Ferner führte er aus, die Handelsregistereinträge zur Kollektivunterschrift erklärten sich aus der Geschichte des Familienunternehmens und dem Bemühen des Gründers um eine gleichberechtigte Nachfolgeregelung für seine Söhne, obwohl er selbst während seiner gesamten Laufbahn ausschliesslich physische Arbeiten auf Baustellen verrichtet habe und keine administrativen oder kaufmännischen Fähigkeiten besitze.

Würdigung des Bundesgerichts

  1. Noven: Das Bundesgericht beurteilt die Zulässigkeit der vom Beschwerdeführer neu eingereichten Schreiben der Arbeitgeberin und des Beschwerdeführers selbst (vom 2. und 3. Juli 2025) als "unechte Noven" gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG. Diese durften berücksichtigt werden, da das vorinstanzliche Urteil erst Anlass zur Rüge gegeben habe und die Berechtigung zur Noveneinreichung aufgrund der erhobenen Gehörsrügen ausreichend dargelegt sei.

  2. Handelsregister-Eintrag und tatsächliche Tätigkeit: Das Bundesgericht gibt dem Beschwerdeführer in einem zentralen Punkt Recht: Es hält fest, dass die Arbeitgeberin und der Beschwerdeführer anhand der konkreten Erwerbsbiographie und der Verhältnisse im Unternehmen glaubhaft dargelegt haben, dass die Handelsregistereinträge allein nicht den Schluss nahelegen, der Beschwerdeführer habe administrative Führungsarbeiten tatsächlich wahrgenommen oder Gelegenheit dazu gehabt. Er habe nach seinen Angaben über 40 Jahre lang einzig physische Arbeiten verrichtet und keine entsprechenden Weiterbildungen absolviert.

  3. Soziallohnprüfung und Verwertung der Restarbeitsfähigkeit:

    • Das Gericht bestätigt, dass der Beschwerdeführer im streitigen Zeitraum in seiner angestammten Arbeit noch zu 25% und in angepassten, leichten Tätigkeiten zu 50% leistungsfähig war.
    • Obwohl keine formalen administrativen Tätigkeiten ausgeübt wurden und keine "Backoffice"-Aufgaben im Kleinbetrieb zur Verfügung standen, die nicht bereits von anderen Familienmitgliedern erledigt wurden, argumentiert das Bundesgericht, dass der Beschwerdeführer seine langjährig erworbene Berufserfahrung als Vorarbeiter und seine umfassenden Betriebskenntnisse nutzbringend einsetzen konnte.
    • Diese Fähigkeiten könnten auch ohne direkte technische oder administrative Verrichtungen im "Backoffice" eingesetzt worden sein, etwa bei der Planung und Einrichtung von Baustellen, bei der Einarbeitung eines neuen Vorarbeiters oder auch im Bereich der Auftragsakquise.
    • Das Bundesgericht betont erneut die hohen Anforderungen an den Nachweis von Soziallohn. Die Tatsache, dass ein Versicherter im Familienbetrieb arbeitet und ein bestimmtes Gehalt bezieht, rechtfertigt allein noch nicht die Annahme eines Soziallohns. Ein solches Einkommen darf erst dann als massgebendes Invalideneinkommen betrachtet werden, wenn betriebliche Einsatzmöglichkeiten, die der gesundheitlichen Einschränkung Rechnung tragen, ausgeschöpft sind und der ausbezahlte Lohn trotzdem nicht durch eine äquivalente Arbeitsleistung gedeckt wird.
    • Unter Berücksichtigung der in den Jahren 2021 und 2022 bezogenen Krankentaggelder, die bei weitem keine Arbeitsunfähigkeit von 75% abgegolten haben, kommt das Bundesgericht zum Schluss: Die Vorinstanz durfte willkürfrei davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer im Zeitraum 2021 und 2022 eine Gesamtleistung erbracht hat (oder wenigstens erbringen konnte), die wirtschaftlich relevant über eine Tätigkeit als Magaziner und Reinigungskraft im Werkhof der Firma hinausgegangen ist und somit das bestätigte Invalideneinkommen von CHF 47'562.- (2021) und CHF 56'136.- (2022) rechtfertigt.

Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Die vorinstanzliche Schlussfolgerung, dass die Lohnzahlungen in den Jahren 2021 und 2022 leistungsgerecht waren und somit keine Soziallohnkomponente enthielten, erweist sich im Ergebnis als bundesrechtskonform. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, auch wenn es die vorinstanzliche Begründung nicht in allen Belangen teilt, insbesondere hinsichtlich der Bewertung der Handelsregistereinträge. Da das Bundesgericht an die Erwägungen der Vorinstanz nicht gebunden ist und eine Beschwerde auch mit abweichender Begründung abweisen kann, und die Invaliditätsbemessung im Übrigen nicht strittig ist, bleibt es beim angefochtenen Urteil.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Anwendbares Recht: Für die strittigen Perioden (2021-2023) ist das alte IV-Recht massgebend, welches eine Soziallohnkomponente vom Invalideneinkommen ausschliesst, sofern keine äquivalente Gegenleistung erbracht wird.
  • Soziallohn-Definition: Soziallohn sind aus sozialen Erwägungen gewährte Lohnanteile ohne entsprechende Arbeitsleistung. An dessen Nachweis werden sehr hohe Anforderungen gestellt.
  • Kein Soziallohn im vorliegenden Fall: Trotz langer Betriebszugehörigkeit im Familienunternehmen und gesundheitlicher Einschränkungen konnte der Beschwerdeführer seine langjährige Berufs- und Betriebserfahrung wirtschaftlich nutzbringend einsetzen.
  • Handelsregister-Eintrag: Die Handelsregistereinträge zur Kollektivunterschrift wurden vom Bundesgericht als nicht allein ausschlaggebend für die Annahme administrativer Führungstätigkeiten betrachtet, da die glaubhafte Darstellung der tatsächlichen Tätigkeit (physische Arbeit) Vorrang hat.
  • Ergebnis: Das Bundesgericht beurteilte die von der IV-Stelle und der Vorinstanz angenommene Einkommenssituation als leistungsgerecht, da der Beschwerdeführer eine dem Lohn entsprechende Arbeitsleistung erbringen konnte. Die Beschwerde wurde abgewiesen.