Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_234/2025 vom 18. November 2025

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Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_234/2025 vom 18. November 2025 befasst sich detailliert mit der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und des Anspruchs auf eine Invalidenrente im Rahmen der Invalidenversicherung (IV) bei einer versicherten Person, die unter psychischen und somatischen Beschwerden leidet.

1. Sachverhalt und Verfahrensgang

Die 1984 geborene Beschwerdegegnerin A.__ war bis 2017 als Verkäuferin tätig. Im Februar 2018 meldete sie sich wegen eines erhöhten Brust- und Eierstockkrebsrisikos mit erheblicher psychischer Belastung bei der IV an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich lehnte den Rentenanspruch zunächst ab (2019), da keine dauerhafte gesundheitliche Einschränkung festgestellt wurde. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Sache 2020 zur erneuten Abklärung an die IV-Stelle zurück.

Nach weiteren medizinischen Erhebungen, insbesondere einem polydisziplinären MEDAS-Gutachten (2023/2024), gelangte die IV-Stelle zu einer rheumatologisch ausgewiesenen Arbeitsunfähigkeit von 30 % und verneinte den Rentenanspruch erneut (2024).

Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hob diese Verfügung auf (2025) und stellte bindend fest, A.__ sei seit August 2017 in jeglicher Erwerbstätigkeit zu 75 % arbeitsunfähig. Die Sache wurde an die IV-Stelle zur Prüfung der Statusfrage und Haushaltsabklärung vor Ort zurückgewiesen.

Gegen diesen Rückweisungsentscheid des kantonalen Sozialversicherungsgerichts führte die IV-Stelle des Kantons Zürich Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vor Bundesgericht.

2. Prozessuale Besonderheiten und Zulässigkeit der Beschwerde

Das Bundesgericht prüfte die Zulässigkeit der Beschwerde, da es sich um einen Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG handelte. Die Beschwerde war gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig, weil der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid für die IV-Stelle verbindlich die 75 %ige Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdegegnerin festgestellt hatte. Dies stellt für den Versicherungsträger einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil dar, da er seine eigenen, nach den Vorgaben des kantonalen Gerichts zu erlassenden Rechtsakte nicht anfechten könnte (BGE 133 V 477 E. 5.2.4). Ein Feststellungsbegehren der IV-Stelle bezüglich der Rechtskonformität der gutachterlichen Einschätzung wurde mangels schutzwürdigen Interesses als unzulässig erachtet.

3. Rechtliche Grundlagen und Kognition des Bundesgerichts

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), überprüft jedoch tatsächliche Feststellungen, die offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung beruhen (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Die Rechtsanwendung erfolgt von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG).

  • Zeitliche Anwendbarkeit: Für die Beurteilung des Leistungsanspruchs ist grundsätzlich die bis zum 31. Dezember 2021 in Kraft gestandene Rechtslage massgebend, da die IV-Anmeldung 2018 erfolgte und der Anspruchsbeginn vor der "Weiterentwicklung der IV" (WEIV) am 1. Januar 2022 liegt. Übergangsbestimmungen (lit. b Abs. 1 der Übergangsbestimmungen des IVG zur Änderung vom 19. Juni 2020) stellen sicher, dass ein vorher entstandener Rentenanspruch bei Personen unter 55 Jahren bis zu einer Änderung des Invaliditätsgrads bestehen bleibt.
  • Beurteilung psychischer Erkrankungen: Bei psychischen Erkrankungen ist für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ein strukturiertes Beweisverfahren anhand von systematisierten Indikatoren (Beweisthemen und Indizien) heranzuziehen (BGE 145 V 361 E. 3.1; 141 V 281). Es ist nicht allein Sache der Ärzte, über die rechtlich verbindliche Arbeitsunfähigkeit zu entscheiden; Gerichte können einer medizinischen Einschätzung die rechtliche Massgeblichkeit absprechen, wenn triftige Gründe vorliegen (BGE 140 V 193 E. 3.1; 144 V 50 E. 4.3).
  • Schwere der Erkrankung und Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit: Nicht die Schwere einer Krankheit, sondern deren Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit ist entscheidend (BGE 148 V 49 E. 6.2.2). Insbesondere bei leicht- bis mittelgradigen depressiven Störungen müssen gewichtige Gründe vorliegen, damit auf eine invalidisierende Erkrankung geschlossen werden kann. Medizinische Sachverständige müssen schlüssig darlegen, warum trotz grundsätzlich guter Therapierbarkeit funktionelle Leistungseinschränkungen resultieren (BGE 148 V 49 E. 6.2.2).
  • Bedeutung des Behandlungspotenzials (BGE 151 V 194): Das Bundesgericht hat in BGE 151 V 194 seine frühere Rechtsprechung präzisiert: Die grundsätzliche Behandelbarkeit einer Gesundheitsbeeinträchtigung schliesst eine Erwerbsunfähigkeit nicht von vornherein aus. Die Therapierbarkeit bleibt aber im Zusammenhang mit der Einschätzung des Schweregrades und der Selbsteingliederungspflicht bedeutsam. Ein Rentenanspruch kann entstehen, auch wenn ein Leiden noch nicht austherapiert ist, sofern keine aus Eigeninitiative umsetzbare Selbsteingliederungspflicht besteht.

4. Die vorinstanzliche Würdigung und die Kritik der Beschwerdeführerin

Die Vorinstanz hatte eine somatische Arbeitsunfähigkeit von 30 % als unbestritten angenommen. Psychisch konstatierte sie eine "mindestens mittelgradige" Ausprägung der Befunde und eine 75 %ige Arbeitsunfähigkeit, welche der Indikatorenprüfung standhalte. Die Beschwerdeführerin (IV-Stelle) rügte im Wesentlichen eine fehlerhafte Anwendung der normativen Rahmenbedingungen, insbesondere Inkonsistenzen, Aggravationsverhalten, fehlende Therapieresistenz, fehlende wesentliche Komorbiditäten und das Vorhandensein von Ressourcen, welche die 75 %ige Arbeitsunfähigkeit als nicht nachvollziehbar erscheinen liessen.

5. Die bundesgerichtliche Überprüfung der Indikatoren

Das Bundesgericht überprüfte die vorinstanzliche Indikatorenprüfung detailliert und kam zum Schluss, dass diese in mehreren Punkten nicht bundesrechtskonform war:

  • Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde (E. 5.1): Das Bundesgericht rügte die vorinstanzliche Formulierung einer "mindestens mittelgradigen" Ausprägung als Überschreitung des Beurteilungsspielraums. Die Einschätzung des Gesundheitszustandes sei ureigene Aufgabe des Arztes; eine Indikatorenprüfung erlaube keinen Schluss auf eine höhere als die ärztlich ermittelte Arbeitsunfähigkeit. Der Hinweis auf die Mini-ICF-APP, wonach nur drei von dreizehn Bereichen mittelgradig beeinträchtigt seien, deutet laut Bundesgericht zwar nicht allein auf eine offensichtliche Unrichtigkeit hin, wurde aber im Kontext relativiert.
  • Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz (E. 5.2): Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerdegegnerin keine neuen Therapieansätze gewählt, keine Medikation angepasst und sich nicht in das empfohlene stationäre/teilstationäre Setting begeben hatte, obwohl eine Verbesserung des Gesundheitszustands als realistisch beurteilt worden war. Die Behandlung alle drei Wochen wurde als ungenügend qualifiziert (unter Verweis auf Urteil 8C_814/2016). Dies deutet auf einen geringeren Leidensdruck hin und zeigt, dass nicht alle zumutbaren Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft wurden.
  • Komorbiditäten (E. 5.3): Die Vorinstanz hatte eine erhebliche Komorbidität angenommen. Das Bundesgericht kritisierte, dass gutachterlich aus gynäkologischer, neurologischer oder allgemeinmedizinischer Sicht keine Arbeitsunfähigkeit attestiert wurde und die chronische Schmerzstörung nicht adäquat behandelt wurde. Anderweitige psychiatrische Komorbiditäten lägen nicht vor. Die Annahme einer ressourcenhemmenden Komorbidität wurde daher als zweifelhaft erachtet.
  • Persönlichkeit (E. 5.4): Die Vorinstanz hatte die Ressourcen der Beschwerdegegnerin als "lediglich bescheiden" beurteilt. Das Bundesgericht sah dies als offensichtlich unrichtig an, da die Persönlichkeitsstruktur und komplexe Ich-Funktionen der Beschwerdegegnerin keine Auffälligkeiten zeigten. Die langjährige Erwerbstätigkeit (13 Jahre, 60-80 %) trotz fehlender Berufsbildung wurde als wesentliche und von der Vorinstanz unterschätzte Ressource hervorgehoben.
  • Sozialer Kontext (E. 5.5): Die Vorinstanz ging von aufgewogenen Ressourcen aus. Das Bundesgericht betonte die Familie als wichtigste Ressource der Beschwerdegegnerin (Ehemann, Kinder, Eltern, Geschwister), die trotz Belastungen (Krebserkrankung der Mutter, Arbeitsunfähigkeit des Ehemanns) eine gewichtige Energiequelle darstelle. Der konstatierte "soziale Rückzug" wurde relativiert, da kein zuvor hohes Aktivitätsniveau ersichtlich war.
  • Konsistenz (E. 5.6): Die Vorinstanz befand ein tiefes Niveau der Alltagsaktivität als konsistent mit der tiefen Arbeitsfähigkeit. Das Bundesgericht hielt dem entgegen, dass die Beschwerdegegnerin ihre Kinder und den Haushalt adäquat versorgen konnte und ihre Tagesgestaltung nicht schwerwiegend beeinträchtigt war. Ohne Nachweis eines zuvor ausgeprägten sozialen Aktivitätenniveaus könne nicht von einem ungleichmässigen Rückzug gesprochen werden.
  • Leidensdruck (E. 5.7): Die Vorinstanz hatte trotz ungenügender Therapie keinen direkten Schluss auf fehlenden Leidensdruck gezogen. Das Bundesgericht sah die unzureichende Therapie und die Ablehnung empfohlener Massnahmen (z.B. Medikamentenumstellung, stationäre Therapie) als Indizien gegen einen besonderen Leidensdruck, insbesondere angesichts der angestrebten hohen Versicherungsleistungen und der fehlenden Erwerbstätigkeit.

6. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

Zusammenfassend kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Indikatorenprüfung der Vorinstanz in verschiedenen Punkten nicht überzeugte. Es fehlte an einer erheblichen Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde, an eindeutig ressourcenmindernden Komorbiditäten, an ausgeschöpften therapeutischen Optionen, einer adäquaten Therapiefrequenz sowie einem ausgewiesenen Leidensdruck. Auch sei kein konstanter sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens ersichtlich, und die Tagesgestaltung sei nicht schwerwiegend beeinträchtigt. Trotz eher bescheidener Ressourcen seien diese, insbesondere die langjährige Erwerbstätigkeit und die innerfamiliäre Unterstützung, nicht gänzlich zu vernachlässigen.

Die gutachterlich attestierte 75 %ige Arbeitsunfähigkeit hält nach Auffassung des Bundesgerichts einer normativen Prüfung nicht stand. Die Vorinstanz habe eine qualifiziert unrichtige Feststellung der tatsächlichen Verhältnisse sowie eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 f. ATSG vorgenommen. Gleichwohl könne nicht von einem vollkommen intakten Leistungsvermögen aus psychischer Optik ausgegangen werden.

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der IV-Stelle teilweise gut, hob das vorinstanzliche Urteil auf und wies die Sache an die Vorinstanz zur Einholung ergänzender psychiatrischer Abklärungen zurück, welche den aufgezeigten Punkten Rechnung tragen und das verbleibende Rendement der Beschwerdegegnerin einschätzen. Erst danach sei zu beurteilen, ob weitere Abklärungen (Statusfrage, Haushaltsabklärung) noch erforderlich sind.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Fehlerhafte Indikatorenprüfung: Das Bundesgericht rügte die vorinstanzliche Indikatorenprüfung bei psychischen Leiden als unzureichend und bundesrechtswidrig.
  2. Überschreitung des Beurteilungsspielraums: Die Vorinstanz überschritt ihren Beurteilungsspielraum, indem sie eine höhere Ausprägung der Befunde annahm als ärztlich festgestellt.
  3. Inadäquate Therapie und geringer Leidensdruck: Nicht ausgeschöpfte Therapieoptionen, eine unzureichende Therapiefrequenz und die Ablehnung von Behandlungsangeboten wurden als Indizien für einen geringeren Leidensdruck gewertet.
  4. Verkannte Ressourcen und fehlende Konsistenz: Die Vorinstanz verkannte die persönlichen und sozialen Ressourcen der Beschwerdegegnerin (insbesondere langjährige Erwerbstätigkeit und familiäre Unterstützung) und liess es an einer konsistenten Würdigung des Aktivitätsniveaus fehlen.
  5. Rückweisung an die Vorinstanz: Die bindende Feststellung einer 75 %igen Arbeitsunfähigkeit durch die Vorinstanz wurde aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zur Einholung neuer, präzisierter psychiatrischer Gutachten zurückgewiesen, um eine rechtskonforme Einschätzung der verbleibenden Arbeitsfähigkeit zu ermöglichen.