Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_174/2025 vom 27. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 8C_174/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 27. November 2025

1. Einleitung und Streitgegenstand

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts befasst sich mit der Frage der rechtsgültigen elektronischen Einreichung einer Beschwerde vor dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Konkret ging es darum, ob eine mittels der Zustellplattform IncaMail im Versandmodus "Vertraulich" übermittelte Beschwerde die gesetzlichen Formerfordernisse für die Wahrung einer Rechtsmittelfrist erfüllt. Die Vorinstanz, das Sozialversicherungsgericht, hatte ein Nichteintreten auf die Beschwerde verfügt, da die elektronische Eingabe nicht fristwahrend mittels der erforderlichen Versandart "Einschreiben" erfolgt sei und somit keine den gesetzlichen Anforderungen genügende Abgabequittung vorliege.

Die Beschwerdeführerin A.__ beantragte die Aufhebung des vorinstanzlichen Beschlusses und die Verpflichtung zum Eintreten auf ihre Beschwerde. Eventualiter verlangte sie eine Nachfrist zur erneuten Einreichung der Eingabe mittels der korrekten Versandart "IncaMail Einschreiben".

2. Sachverhaltliche Ausgangslage

A.__, geboren 1981, meldete sich am 23. November 2022 erneut bei der Invalidenversicherung an. Ihr Leistungsbegehren wurde von der IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 2. Dezember 2024 abgelehnt. Diese Verfügung wurde der Beschwerdeführerin am 3. Dezember 2024 zugestellt. Die 30-tägige Beschwerdefrist endete unter Berücksichtigung des Fristenstillstands am 20. Januar 2025 um 23:59 Uhr.

Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin reichte am 20. Januar 2025 um 19:23 Uhr über die Zustellplattform IncaMail eine Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ein. Die Eingabe war mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen. Der Rechtsvertreter nutzte jedoch – nach eigenen Angaben irrtümlich – die Versandart "Vertraulich" anstelle der vorgeschriebenen Versandart "Einschreiben". Eine den gesetzlichen Anforderungen genügende "Abgabequittung" im Sinne der einschlägigen Verordnung wurde daher weder dem Absender noch dem Gericht ausgestellt.

Aufgrund dieser Sachlage trat das Sozialversicherungsgericht mit Beschluss vom 18. Februar 2025 auf die Beschwerde nicht ein, da diese nicht rechtsgültig übermittelt worden sei und somit keine fristwahrende elektronische Eingabe vorliege. Da die Übermittlung am letzten Tag der Frist und ausserhalb der Büroöffnungszeiten erfolgte, sei zudem keine Nachfrist zur Mängelbehebung möglich gewesen.

3. Rechtliche Grundlagen und Argumentation des Bundesgerichts

3.1. Fristen und elektronische Eingaben im Allgemeinen Das Bundesgericht erinnert an die Fristenregelung gemäss Art. 60 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 1 ATSG, wonach eine Beschwerde innert 30 Tagen einzureichen ist und die Frist nur gewahrt ist, wenn die Eingabe spätestens am letzten Tag der Frist beim Gericht eingereicht oder zu dessen Handen der Post übergeben wird. Eine Fristverlängerung ist ausgeschlossen (Art. 40 Abs. 1 ATSG).

Für das Verfahren vor dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich finden gemäss § 28 lit. a GSVGer die Bestimmungen der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) sinngemäss Anwendung. Die ZPO und die gestützt darauf ergangenen Verordnungen stellen insoweit subsidiäres kantonales Recht dar, dessen Anwendung das Bundesgericht nur unter dem Blickwinkel der Willkür prüft (Art. 9 BV).

3.2. Spezifische Anforderungen an elektronische Eingaben Art. 130 Abs. 1 ZPO schreibt vor, dass Eingaben in Papierform oder elektronisch einzureichen und zu unterzeichnen sind. Abs. 2 verlangt eine qualifizierte elektronische Signatur gemäss Bundesgesetz über die elektronische Signatur (ZertES). Weiter ermächtigt Art. 130 Abs. 2 ZPO den Bundesrat, die Art und Weise der Übermittlung zu regeln.

Massgebend ist Art. 143 Abs. 2 ZPO, in seiner seit dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung. Danach ist bei elektronischer Einreichung für die Fristwahrung der Zeitpunkt massgebend, in dem die Quittung ausgestellt wird, die bestätigt, dass alle Schritte abgeschlossen sind, die auf der Seite der Partei für die Übermittlung notwendig sind. Dies bedeutet eine Annäherung an das Expeditionsprinzip (Aufgabeprinzip), im Gegensatz zum früheren Empfangsprinzip (vgl. Art. 143 Abs. 2 ZPO a.F.). Das Bundesgericht stellt klar, dass seine frühere Rechtsprechung (z.B. Urteil 2C_502/2018), welche noch vom Empfangsprinzip sprach, die alte Rechtslage vor Augen hatte und seit 2017 nicht mehr einschlägig ist.

3.3. Die Verordnung über die elektronische Übermittlung (VeÜ-ZSSV) Gestützt auf Art. 130 Abs. 2 ZPO hat der Bundesrat die VeÜ-ZSSV erlassen. Art. 4 VeÜ-ZSSV sieht vor, dass Eingaben anerkannte Zustellplattformen zu verwenden haben. Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV konkretisiert die Fristwahrung: Es ist der Zeitpunkt massgebend, in dem die verwendete Zustellplattform die Abgabequittung ausstellt, welche den Erhalt der Eingabe zuhanden der Behörde bestätigt. Diese Quittung muss gemäss dem Kriterienkatalog Zustellplattformen unter anderem den Abgabezeitpunkt, Angaben zu Absender und Empfänger sowie eine fortgeschrittene elektronische Signatur der Plattform enthalten. Besonders hervorgehoben wird, dass die Quittung Angaben zum Hashwert der Beilagen enthalten muss (Ziff. 5.1 lit. b).

3.4. Würdigung der Argumente der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin räumt ein, dass sie über keine den Anforderungen von Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV genügende Abgabequittung verfügt, da insbesondere die Hashwerte der Beilagen in den vorgelegten Dokumenten fehlen. Sie argumentiert jedoch, der Nachweis der fristgerechten Eingabe könne durch alternative Belege (Kopie der IncaMail-Nachricht, Übermittlungsbestätigung, Logdaten) erbracht werden, aus denen der Zeitpunkt der Abgabe und die Empfängerin hervorgingen.

Das Bundesgericht weist dieses Argument zurück: * Abgabequittung als Rechtsakt: Die gesetzlichen Bestimmungen (Art. 143 Abs. 2 ZPO, Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV) verlangen explizit eine signierte Abgabequittung. Diese dient der Rechtssicherheit und dem Schutz vor Manipulationen, da sie nicht nur den Zeitpunkt der Übermittlung, sondern auch die Integrität und Vollständigkeit der übermittelten Dokumente (inkl. Beilagen mittels Hashwerten) belegt. * Unzureichende alternative Belege: Eine qualifizierte elektronische Signatur der Beschwerdeschrift selbst (wie hier vorhanden) schliesst zwar Manipulationen an der Schrift aus, belegt aber nicht die fristgerechte Übermittlung der gesamten Eingabe mit Beilagen. Eine Übermittlungsbestätigung ohne die erforderlichen Angaben zu den Beilagen (Grösse, Hashwerte) ist ebenfalls ungenügend. * Abgrenzung zu postalischen Sendungen: Der Vergleich mit postalischen Sendungen, bei denen der Beweis der Rechtzeitigkeit mit jedem tauglichen Beweismittel (z.B. Zeugenaussage) erbracht werden kann, verfängt nicht. Art. 143 Abs. 1 ZPO (postalisch) und Art. 143 Abs. 2 ZPO (elektronisch) stellen unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Fristwahrung. Bei elektronischer Einreichung ist der Abgabezeitpunkt in der Abgabequittung allein massgebend.

Das Bundesgericht gelangt zum Schluss, dass die Vorinstanz mit ihrer Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts (ZPO und VeÜ-ZSSV) nicht in Willkür verfallen ist. Die strikte Anwendung dieser Vorschriften, welche schutzwürdige Interessen wie Rechtssicherheit und Manipulationsschutz verfolgen, ist nicht offensichtlich unhaltbar.

3.5. Prüfung des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV)

Die Beschwerdeführerin rügte zudem eine Verletzung des Verbots des überspitzten Formalismus und des Grundsatzes von Treu und Glauben. Eine solche liegt vor, wenn eine Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt und den Rechtsweg unzulässig versperrt, ohne dass schutzwürdige Interessen dies rechtfertigen.

Das Bundesgericht verneint einen überspitzten Formalismus im vorliegenden Fall: * Keine Nachfrist zur Mängelbehebung: Eine Nachfrist zur Behebung eines Mangels (z.B. fehlende Unterschrift) muss gewährt werden, wenn die noch verfügbare Zeit dies zulässt. Im vorliegenden Fall erfolgte die elektronische Eingabe jedoch am letzten Tag der Beschwerdefrist um 19:23 Uhr, also ausserhalb der Büroöffnungszeiten. Eine Verbesserung des Mangels (korrekte Versandart mit Abgabequittung) innert der Frist war somit objektiv nicht mehr möglich. * Sorgfaltspflicht des Rechtsvertreters: Das Bundesgericht betont die anwaltliche Sorgfaltspflicht. Angesichts der Möglichkeit technischer Probleme sollte eine Eingabe nicht derart kurz vor Fristablauf elektronisch übermittelt werden, dass bei Ausbleiben der Abgabequittung keine Zeit mehr für eine fristgerechte Einreichung auf postalischem Weg verbleibt (vgl. Urteil 6B_739/2021 E. 1.2.2). * Legitime Interessen: Die strikte Anwendung der Vorschriften zur Fristwahrung bei elektronischen Eingaben ist durch schutzwürdige Interessen (Rechtssicherheit, geordnete Rechtspflege, Gleichbehandlung, Schutz vor Manipulation) gerechtfertigt und stellt daher keinen überspitzten Formalismus dar (vgl. BGE 149 IV 97 E. 2.1; 143 I 284 E. 1.3 sowie das heute ergangene Urteil 8C_604/2024). * Keine Lockerung durch ATSG: Auch die allgemeinen Beratungs- und Weiterleitungspflichten im Sozialversicherungsrecht (Art. 27 und Art. 30 ATSG) rechtfertigen keine Lockerung der Vorschriften zum Nachweis der Fristwahrung.

4. Fazit und abschliessende Bemerkungen

Das Bundesgericht weist die Beschwerde vollumfänglich ab. Es hält fest, dass das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich weder kantonales Recht willkürlich angewandt noch das Verbot des überspitzten Formalismus verletzt hat, indem es aufgrund der fehlenden, rechtsgültigen Abgabequittung auf die Beschwerde nicht eintrat. Die fehlende Verwendung der Versandart "Einschreiben" und die damit einhergehende Nichtexistenz einer den gesetzlichen Vorgaben entsprechenden Abgabequittung führten zu einer nicht fristgerechten Einreichung.

5. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Problem: Elektronische Einreichung einer Beschwerde mittels IncaMail im Modus "Vertraulich" statt "Einschreiben".
  • Rechtliche Grundlage: Art. 143 Abs. 2 ZPO und Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV verlangen für elektronische Eingaben eine Abgabequittung der Zustellplattform.
  • Anforderungen an Abgabequittung: Diese muss u.a. den Abgabezeitpunkt, Angaben zu Absender/Empfänger, eine elektronische Signatur der Plattform und die Hashwerte der Beilagen enthalten, um die Integrität und Vollständigkeit der übermittelten Dokumente zu belegen.
  • Abgabequittung als Beweismittel: Nur diese Quittung gilt als Nachweis der fristgerechten und rechtsgültigen Übermittlung. Alternative Belege (Logdaten, einfache Übermittlungsbestätigungen) sind unzureichend, da sie die Vollständigkeit der Beilagen nicht garantieren.
  • Expeditionsprinzip: Seit 2017 ist nicht mehr der Empfang der Eingabe beim Gericht entscheidend, sondern der Zeitpunkt der Ausstellung der Abgabequittung durch die Plattform (Annäherung an das Expeditionsprinzip).
  • Kein überspitzter Formalismus: Die strikte Anwendung dieser Formerfordernisse ist durch das schutzwürdige Interesse an Rechtssicherheit, Manipulationsschutz und einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt.
  • Keine Nachfrist: Da die Eingabe am letzten Tag der Frist ausserhalb der Bürozeiten erfolgte, konnte keine Nachfrist zur Behebung des Mangels gewährt werden. Rechtsvertreter müssen die Möglichkeit technischer Probleme einkalkulieren und Eingaben nicht zu kurz vor Fristablauf einreichen.
  • Folge: Nichteintreten auf die Beschwerde durch die Vorinstanz wurde vom Bundesgericht bestätigt.