Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 8C_604/2024 vom 27. November 2025
Einleitung und Sachverhalt
Das Urteil 8C_604/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 27. November 2025 befasst sich mit der Frage der Rechtzeitigkeit einer elektronisch eingereichten Beschwerde im Kontext der Invalidenversicherung (IV) und der damit verbundenen prozessualen Formvorschriften.
Die 1976 geborene A.__ meldete sich im Januar 2020 aufgrund starker Migräne bei der IV an. Ihre Leistungsbegehren wurden von der IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 25. Juni 2024 abgelehnt. Die Verfügung wurde der Beschwerdeführerin am 26. Juni 2024 zugestellt. Die 30-tägige Beschwerdefrist (Art. 60 Abs. 1 ATSG) endete unter Berücksichtigung des Fristenstillstandes (Art. 38 Abs. 4 lit. b ATSG) am 27. August 2024.
Der Rechtsvertreter der A.__ versuchte am 23. Juli 2024, die Beschwerde über die anerkannte Zustellplattform PrivaSphere an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zu übermitteln, wobei er die Versandart "Vertraulich" wählte. Das Gericht erhielt daraufhin lediglich eine "Abholeinladung" von PrivaSphere, die weder den Absender noch den Inhalt der Nachricht oder allfällige Anhänge erkennen liess und für deren Abruf ein separater Zugangscode (MUC – Message Unlock Code) erforderlich gewesen wäre.
Am 28. August 2024, einen Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist, reichte der Rechtsvertreter der A.__ dem Sozialversicherungsgericht erneut eine Beschwerde, diesmal mit der Versandart "eGov Einschreiben" und qualifizierter elektronischer Signatur, zusammen mit einem Arztbericht ein. Das Sozialversicherungsgericht informierte den Rechtsvertreter am 30. August 2024 telefonisch darüber, dass die erwähnte Beschwerde vom 23. Juli 2024 aufgrund der falsch gewählten Versandart nicht habe geöffnet und abgeholt werden können. Die am 30. August 2024 mittels "eGov Einschreiben" übermittelte Beschwerde wurde vom Gericht entgegengenommen.
Mit Beschluss vom 2. Oktober 2024 trat das Sozialversicherungsgericht auf die Beschwerde nicht ein. Es begründete dies damit, dass die erste Übermittlung vom 23. Juli 2024 nicht rechtsgültig (d.h. mit der Versandart "eGov Einschreiben") erfolgt sei und somit keine fristwahrende elektronische Eingabe vorliege. Die am 30. August 2024 erfolgte Übermittlung sei verspätet gewesen.
Die Beschwerdeführerin reichte daraufhin Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein mit dem Antrag, den Beschluss der Vorinstanz aufzuheben und das Gericht anzuweisen, auf die Beschwerde einzutreten. Sie rügte insbesondere eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung sowie eine Verletzung des Vertrauensgrundsatzes, des Rechts auf ein faires Verfahren und des Verbots des überspitzten Formalismus (Art. 29 BV).
Streitfrage
Die zentrale Streitfrage war, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie wegen Fristversäumnisses aufgrund einer falsch gewählten elektronischen Versandart auf die Beschwerde nicht eintrat.
Rechtliche Grundlagen und Begründung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüfte die Rügen der Beschwerdeführerin unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Bundesrecht und der Willkür in der Anwendung kantonalen Rechts (Art. 95 lit. a, 106 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 9 BV).
1. Fristwahrung im Sozialversicherungs- und Zivilprozessrecht
- ATSG-Fristen: Gemäss Art. 60 Abs. 1 ATSG ist eine Beschwerde innert 30 Tagen einzureichen, wobei diese Frist gemäss Art. 40 Abs. 1 ATSG nicht erstreckbar ist. Die Frist ist nur gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim Gericht eingereicht oder zu dessen Handen u.a. der Schweizerischen Post übergeben wird (Art. 39 Abs. 1 i.V.m. Art. 60 Abs. 2 ATSG). Eine verspätete Eingabe führt zur formellen Rechtskraft des Verwaltungsentscheids und zum Nichteintreten auf die Beschwerde (BGE 134 V 49 E. 2).
- Anwendung der ZPO: Gemäss § 28 lit. a des Zürcher Gesetzes über das Sozialversicherungsgericht (GSVGer) findet die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) sinngemäss ergänzend Anwendung. Die ZPO-Bestimmungen sind somit als subsidiäres kantonales Recht zu betrachten und ihre Anwendung wird vom Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür überprüft.
- Elektronische Einreichung und die Änderung des Art. 143 Abs. 2 ZPO: Art. 130 Abs. 1 ZPO erlaubt elektronische Eingaben, die mit einer qualifizierten elektronischen Signatur gemäss ZertES (Bundesgesetz über die elektronische Signatur) zu versehen sind. Massgeblich für die Fristwahrung bei elektronischer Einreichung ist seit dem 1. Januar 2017 gemäss Art. 143 Abs. 2 ZPO der Zeitpunkt, in dem die Quittung ausgestellt wird, die bestätigt, dass alle Schritte abgeschlossen sind, die auf der Seite der Partei für die Übermittlung notwendig sind. Diese Regelung stellt eine Abkehr vom früheren Empfangsprinzip (wonach der Empfang bei der Zustelladresse des Gerichts massgebend war) dar und nähert sich dem Expeditions- bzw. Abgabeprinzip an.
- Verordnung über die elektronische Übermittlung (VeÜ-ZSSV): Gestützt auf Art. 130 Abs. 2 ZPO hat der Bundesrat die VeÜ-ZSSV erlassen. Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV präzisiert, dass für die Fristwahrung der Zeitpunkt massgebend ist, in dem die von den Verfahrensbeteiligten verwendete Zustellplattform die sogenannte Abgabequittung ausstellt, die bestätigt, dass die Eingabe zuhanden der Behörde erhalten wurde. Diese Quittung muss gemäss Art. 2 lit. b VeÜ-ZSSV unverzüglich ausgestellt werden und den Zeitpunkt des Eingangs auf der Zustellplattform sowie einen von einem synchronisierten Zeitstempeldienst bestätigten Zeitpunkt enthalten, versehen mit einem geregelten elektronischen Siegel (Art. 2 lit. d ZertES).
- Anerkennung von Zustellplattformen und Kriterienkatalog: Das EJPD führt eine Liste der anerkannten Zustellplattformen (z.B. PrivaSphere, IncaMail). Der Kriterienkatalog Zustellplattformen, ein Anhang zur Anerkennungsverordnung Zustellplattformen, regelt technische Details. Er verlangt insbesondere, dass für eine Eingabe an ein Gericht oder eine Behörde eine Abgabequittung und eine Abholquittung ausgestellt werden, wobei die Abgabequittung eine fortgeschrittene elektronische Signatur und präzise Informationen (u.a. Hashwerte) enthalten muss. Das Bundesamt für Justiz hält in seinem Amtsbericht fest, dass bei PrivaSphere nur die Versandart "eGov Einschreiben" anerkannt ist und den Vorgaben des Kriterienkatalogs genügt, insbesondere die Interoperabilität zwischen verschiedenen Plattformen gewährleistet und eine gültige Abgabequittung auslöst. Die Versandart "Vertraulich" erfüllt diese Anforderungen nicht.
- Beweislast: Für die Rechtzeitigkeit, Integrität und Vollständigkeit einer elektronisch eingereichten Beschwerde ist die beschwerdeführende Person beweisbelastet (Urteil 2C_356/2019 E. 2.1).
2. Prüfung der Rügen der Beschwerdeführerin
- Offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz verbindlich dargelegt hatte, dass die vom Rechtsvertreter am 23. Juli 2024 gewählte Versandart "Vertraulich" keine signierte PDF-Datei als Abgabequittung im Sinne der Art. 8b Abs. 1 und 2 VeÜ-ZSSV i.V.m. Ziff. 5.1 des Kriterienkatalogs generiert hat. Die "Bestätigungs-E-Mail" vom 23. Juli 2024, auf die sich die Beschwerdeführerin berief, war keine elektronisch signierte PDF-Datei und enthielt keine Hashwerte oder präzise Grössenangaben in Bytes, die eine manipulationssichere Identifikation der übermittelten Dokumente ermöglicht hätten. Ohne diese Angaben lässt sich nicht rechtssicher feststellen, welche Dateien tatsächlich übermittelt wurden. Die Feststellung der Vorinstanz, es liege keine gültige Abgabequittung vor, war daher nicht willkürlich.
- Vertrauensgrundsatz und faires Verfahren: Die Beschwerdeführerin argumentierte, das Gericht hätte den in der Abholeinladung enthaltenen Link anklicken und den MUC anfordern müssen, analog zu Art. 8a VeÜ-ZSSV. Das Bundesgericht verwarf dieses Argument. Die am 23. Juli 2024 übermittelte E-Mail von PrivaSphere liess weder den Absender noch den Inhalt oder Anhänge der Nachricht erkennen. Unter diesen Umständen sei die Vorinstanz nicht gehalten gewesen, die Nachricht abzurufen oder von sich aus einen MUC anzufordern. Da die Versandart "Vertraulich" keine Interoperabilität gewährleistete, war das Gericht auf das Zutun der Beschwerdeführerin angewiesen. Das Nichteingreifen des Gerichts sei daher kein treuwidriges Verhalten. Die Beschwerdeführerin hätte vielmehr, nachdem sie keine gültige Abgabe- oder Abholquittung erhalten hatte, einen neuen Übermittlungsversuch mittels "eGov Einschreiben" oder auf postalischem Weg unternehmen müssen. Dafür wäre aufgrund des Fristenstillstands noch ausreichend Zeit vorhanden gewesen.
- Bedeutung der Abgabequittung: Das Bundesgericht hob die zentrale Rolle der Abgabequittung hervor. Sie ist gemäss Art. 143 Abs. 2 ZPO und Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV zwingend für die Fristwahrung erforderlich und dient der Rechtssicherheit, indem sie aufwändige Beweiserhebungen über die Rechtzeitigkeit einer Beschwerde verhindert. Die Quittung ist keine blosse Ordnungsvorschrift. Das Fehlen einer solchen, den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Abgabequittung, die einen Abgabezeitpunkt innert der Beschwerdefrist bestätigt, bedeutet, dass keine fristgerechte elektronische Eingabe vorliegt. Andere Belege, wie automatische Übermittlungsbestätigungen oder Logdateien der Plattform, reichen für den Nachweis der Fristwahrung nicht aus, da das Gesetz ausdrücklich eine qualifizierte Quittung verlangt. Dies steht im Einklang mit dem mit der Rechtsänderung von 2017 verfolgten Zweck, die Rechtssicherheit im elektronischen Rechtsverkehr zu erhöhen.
- Verbot des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV): Das Bundesgericht bestätigte, dass die strikte Anwendung der Fristvorschriften im Allgemeinen keinen überspitzten Formalismus darstellt (BGE 104 Ia 4 E. 3). Überspitzter Formalismus liegt nur vor, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 149 III 12 E. 3.3.1).
- Die Pflicht zur Nachfristansetzung bei klar erkennbaren Formmängeln (z.B. fehlende Unterschrift) besteht grundsätzlich, um den Rechtsweg nicht unnötig zu versperren (BGE 142 I 10 E. 2.4.3). Diese gilt jedoch in erster Linie für unverschuldete Versehen. Von fachkundigen Personen, insbesondere Rechtsanwälten, wird erwartet, dass sie Rechtsmittel formgerecht einreichen. Eine Nachfristansetzung ist daher nur bei Versehen oder unverschuldetem Hindernis in Betracht zu ziehen, nicht aber bei bewusstem, unzulässigem Verhalten (BGE 142 I 10 E. 2.4.7).
- Im vorliegenden Fall ist die Übermittlungsart "Vertraulich" zwar nicht mit einer einfachen E-Mail gleichzusetzen, da sie über eine anerkannte Plattform erfolgte und höhere Sicherheitsanforderungen als eine gewöhnliche E-Mail bietet. Dennoch verlangt das geltende Recht (Art. 143 Abs. 2 ZPO) explizit eine Abgabequittung, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten. Das öffentliche Interesse an einer geordneten Rechtspflege und der Rechtsgleichheit erfordert eine konsequente Anwendung dieser Bestimmungen. Dies stellt keinen überspitzten Formalismus dar (BGE 149 IV 97 E. 2.1).
- Das Bundesgericht betonte zudem die Sorgfaltspflicht des Rechtsvertreters: Erhält der Absender keine Abgabequittung, muss er die Eingabe erneut zustellen, nötigenfalls auf postalischem Weg. Eine Eingabe darf nicht derart kurz vor Fristablauf elektronisch übermittelt werden, dass bei Ausbleiben der Quittung keine Zeit mehr für eine fristgerechte postalische Einreichung verbleibt (ZBl 125/2024 S. 621, 6B_739/2021 E. 1.2.2). Im zu beurteilenden Fall hätte der Rechtsvertreter die korrekte Übertragung überprüfen müssen, da weder eine Abgabe- noch eine Abholquittung ausgestellt wurde und noch ausreichend Zeit bis zum Fristablauf bestand.
Fazit und Entscheid
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz weder Art. 143 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV willkürlich angewandt noch gegen das Verbot des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV) verstossen hat. Die erste elektronische Übermittlung der Beschwerde war aufgrund der gewählten Versandart "Vertraulich" nicht fristwahrend, da sie keine interoperable Zustellung ermöglichte und keine den gesetzlichen Anforderungen genügende Abgabequittung generierte. Die zweite Übermittlung erfolgte nach Ablauf der Beschwerdefrist. Folglich war das Nichteintreten auf die Beschwerde durch die Vorinstanz rechtmässig. Die Beschwerde wurde abgewiesen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Die Beschwerdeführerin reichte eine Beschwerde gegen eine IV-Verfügung elektronisch ein, wählte jedoch die Versandart "Vertraulich" anstelle des vorgeschriebenen "eGov Einschreiben". Das Bundesgericht bestätigte, dass diese Versandart keine gültige Abgabequittung nach Art. 143 Abs. 2 ZPO und Art. 8b Abs. 1 VeÜ-ZSSV erzeugte, welche für die Fristwahrung bei elektronischen Eingaben zwingend ist und die Rechtssicherheit gewährleisten soll. Das Fehlen dieser Quittung, die den Abschluss aller Übermittlungsschritte auf Seiten der Partei bestätigt, führte dazu, dass die Eingabe als nicht fristgerecht galt. Weder die Pflicht des Gerichts zur Nachfrage noch der Grundsatz des überspitzten Formalismus wurden verletzt, da ein legitimes Interesse an der Einhaltung der Formvorschriften besteht und von einem Rechtsvertreter die Kenntnis und Beachtung dieser Bestimmungen sowie die Sorgfaltspflicht zur Überprüfung des erfolgreichen Versands erwartet werden kann.