Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_322/2024 vom 17. November 2025

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Gerne, hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_322/2024 vom 17. November 2025:

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 6B_322/2024 vom 17. November 2025

1. Einleitung und Prozessgeschichte

Das Urteil des Bundesgerichts (1. Strafrechtliche Abteilung) vom 17. November 2025 betrifft eine Beschwerde in Strafsachen von A.__ (Beschwerdeführer) gegen das Urteil der Cour pénale des Tribunal cantonal des Kantons Neuenburg vom 1. Februar 2024. Der Beschwerdeführer wurde wegen verschiedener Delikte angeklagt, darunter versuchte qualifizierte einfache Körperverletzung, Tätlichkeiten, Ehrverletzung, Drohung, Nötigung und falsche Anschuldigung.

Die erste Instanz (Tribunal de police du Littoral et du Val-de-Travers) hatte A.__ am 19. April 2023 wegen aller angeklagten Delikte, einschliesslich qualifizierter einfacher Körperverletzung, verurteilt und eine bedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten sowie weitere Strafen ausgesprochen.

Die kantonale Strafkammer (Cour pénale du Tribunal cantonal) änderte das Urteil am 1. Februar 2024 teilweise ab. Sie sprach den Beschwerdeführer von der Anklage der qualifizierten einfachen Körperverletzung frei, bestätigte jedoch die Schuldsprüche für die versuchte qualifizierte einfache Körperverletzung, Tätlichkeiten, Ehrverletzung, Drohung, Nötigung und falsche Anschuldigung. Die verhängte Freiheitsstrafe wurde auf 13 Monate bedingt reduziert, begleitet von einer bedingten Geldstrafe und einer Busse.

Der Beschwerdeführer beantragte vor Bundesgericht einen Freispruch von allen Anklagepunkten, subsidiär eine deutlich reduzierte oder keine Strafe, eventualiter die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Er forderte zudem Entschädigungen für ungerechtfertigte Haft und immateriellen Schaden.

2. Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Art. 9 Cst., Art. 10 Abs. 2 CPP, Art. 105 Abs. 1 und 2 LTF)

Der Beschwerdeführer rügte eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und eine Verletzung der Unschuldsvermutung (Art. 10 CPP, Art. 32 Abs. 1 Cst., Art. 14 Abs. 2 UNO-Pakt II, Art. 6 Abs. 2 EMRK) sowie der Regeln zur Beweiswürdigung.

  • Grundsätze der bundesgerichtlichen Überprüfung:

    • Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 LTF), es sei denn, diese wurden offensichtlich unrichtig oder in Verletzung des Rechts festgestellt (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 LTF), insbesondere willkürlich im Sinne von Art. 9 Cst. Willkür liegt vor, wenn der Entscheid nicht nur diskutabel oder gar kritisierbar ist, sondern schlechterdings unhaltbar in Begründung und Ergebnis.
    • Die Unschuldsvermutung als Beweislastregel bedeutet, dass die Anklage die Beweislast trägt und im Zweifel zugunsten des Angeklagten entschieden wird (in dubio pro reo). Als Beweiswürdigungsregel besagt sie, dass der Richter nicht von der Existenz einer Tatsache zum Nachteil des Angeklagten überzeugt sein darf, wenn objektiv ernsthafte, nicht bloss abstrakte oder theoretische, Zweifel an dieser Tatsache bestehen. Bei der Überprüfung der Beweiswürdigung hat die Unschuldsvermutung keinen weitergehenden Umfang als das Willkürverbot.
    • Aussagen des Opfers sind ein vollwertiges Beweismittel. Der Richter hat sie im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Beweismittel frei zu beurteilen. Fälle von "Aussage gegen Aussage" führen nicht zwingend zu einem Freispruch; die definitive Würdigung der Aussagen obliegt dem Sachgericht.
  • Begründung der kantonalen Instanz (und Bestätigung durch das Bundesgericht): Die Vorinstanz stützte ihre Sachverhaltsfeststellung auf folgende, vom Bundesgericht als nicht willkürlich erachtete, Elemente:

    • Glaubwürdigkeit des Opfers (C.__): Dessen Bericht an die Polizei war klar, detailliert und konstant im Verlauf des Verfahrens. Nichts deutete auf Übertreibungen oder Absicht, dem Beschwerdeführer zu schaden, hin.
    • Aussagen von Zeuginnen: Die Halbschwester des Opfers, B._, und ihre Freundin bestätigten, dass C._ bei seiner Ankunft panisch und verängstigt war und ihnen sofort von den erlittenen Drohungen, Beleidigungen und Gewalttaten berichtete. Dies akkreditiert und korroboriert (bestätigt) die Version des Opfers in hohem Masse.
    • Charakter des Beschwerdeführers: Zahlreiche Zeugenaussagen, ein psychiatrisches Gutachten und die Beobachtungen von Polizeibeamten bei der Festnahme bestätigten die Impulsivität und Aggressivität des Beschwerdeführers, insbesondere unter Alkoholeinfluss (er hatte am Tatabend 0,45 mg/l Alkohol im Atem und zeigte sich gegenüber den Beamten sehr aggressiv).
    • Aussagen des Beschwerdeführers: Obwohl der Beschwerdeführer dazu neigte, seine Handlungen zu minimieren, entsprachen einige seiner anfänglichen Aussagen vor der Polizei den vom Opfer beschriebenen Taten (z.B. hatte er angegeben, aufgestanden zu sein und einen Stuhl am Lehnen festgehalten zu haben, allerdings ohne die Absicht, ihn zu werfen). Die damalige Lebenspartnerin des Beschwerdeführers hatte zudem angegeben, dieser habe ihr am Tag nach den Taten gesagt: "Ich habe nichts getan, ich habe ihm nur eine Ohrfeige gegeben."
    • Widersprüchliche Angaben des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz stellte fest, dass der Beschwerdeführer zunächst eingeräumt hatte, am Tatabend verärgert gewesen zu sein, weil sein Sohn nicht bei ihm wohnen wollte. Später bestritt er jedoch alle Vorwürfe, was die Vorinstanz als nicht glaubwürdig erachtete.
  • Ablehnung der spezifischen Rügen des Beschwerdeführers:

    • Angebliche Konstanz seiner Bestreitungen: Das Bundesgericht wies dies als appellatorisch zurück, da die Vorinstanz gerade widersprüchliche Versionen festgestellt hatte.
    • Fehlende Spuren bei Tätlichkeiten: Der Umstand, dass die Polizei keine sichtbaren Spuren feststellte, führte gerade zur Reduktion der Anklage von qualifizierter einfacher Körperverletzung auf Tätlichkeiten. Das Fehlen von Spuren allein macht die Schläge nicht unglaubwürdig, da der Beschwerdeführer nicht beweisen konnte, dass selbst intensive Schläge zwangsläufig Spuren hinterlassen hätten.
    • Angeblich widersprüchliche Aussagen des Opfers zur "Stuhl-Attacke": Der Beschwerdeführer behauptete, das Opfer habe einmal gesagt, der Stuhl sei geworfen worden, ein anderes Mal, er sei davon getroffen worden. Das Bundesgericht prüfte die Zeugenaussagen von D._ und E._ und stellte fest, dass diese nicht bestätigten, dass der Stuhl das Opfer getroffen hätte, sondern lediglich, dass ein Dritter sich dazwischen gestellt hatte, um dies zu verhindern. Auch die Aussage von F.__ bestätigte diese Version. Daher sah das Bundesgericht keine willkürliche Beweiswürdigung oder Inkonsistenz in den Aussagen des Opfers.
    • Aussage des Zeugen G.__: Der Beschwerdeführer konnte sich nicht auf die Aussage des Zeugen G.__ berufen, da dieser angab, während der relevanten Ereignisse in einem anderen Zimmer gewesen zu sein, kein Französisch zu verstehen und laute Musik gehört zu haben. Seine Aussage war für die strittigen Punkte nicht relevant.

3. Recht auf Gehör (Art. 29 Abs. 2 Cst.)

Der Beschwerdeführer rügte, die Vorinstanz habe sein Recht auf Gehör verletzt, indem sie sich nicht zu "den vorgenannten Elementen" geäussert habe. Das Bundesgericht wies diesen pauschalen Vorwurf als ungenügend begründet (Art. 106 Abs. 2 LTF) zurück. Das angefochtene Urteil sei umfassend und detailliert begründet.

4. Nötigung und Drohung (betreffend B.__) (Art. 180 StGB, Art. 181 StGB)

Der Beschwerdeführer machte geltend, dass B._ nie erklärt habe, von ihm direkt genötigt oder bedroht worden zu sein, und diese Vorwürfe nur auf Aussagen des Sohnes C._ beruhten. Das Bundesgericht erklärte diese Rüge als ungenügend motiviert (Art. 42 Abs. 2 LTF), da der Beschwerdeführer weder eine Verletzung der Straftatbestände selbst rügte noch eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung darlegte.

5. Verbot der reformatio in pejus (Art. 391 Abs. 2 StPO)

Der Beschwerdeführer warf der Vorinstanz eine willkürliche Verletzung des Verschlechterungsverbots vor. Er argumentierte, seine Strafen für Nötigung und versuchte einfache Körperverletzung seien erhöht worden (von 3 auf 6 Monate bzw. von 1 auf 3 Monate), obwohl er nur als einziger Berufung eingelegt hatte und von einem Anklagepunkt (qualifizierte einfache Körperverletzung) freigesprochen worden war.

  • Grundsätze des Verschlechterungsverbots:

    • Art. 391 Abs. 2 StPO verbietet der Rechtsmittelinstanz, einen Entscheid zum Nachteil des Beschuldigten oder Verurteilten abzuändern, wenn das Rechtsmittel ausschliesslich zu deren Gunsten eingelegt wurde.
    • Ziel ist es, den Beschuldigten zu ermutigen, Rechtsmittel einzulegen, ohne eine Verschlechterung befürchten zu müssen.
    • Das Verbot bezieht sich auf die Höhe der Strafe und die rechtliche Qualifikation.
    • Entscheidend ist der Gesamtausgang des Dispositivs des letzten Urteils im Vergleich zum vorherigen Urteil. Eine Verschlechterung liegt nur vor, wenn das neue Urteil insgesamt nachteiliger ist.
    • Bei einem teilweisen Freispruch ist keine automatische Reduktion der Strafe erforderlich, wenn das Gesamturteil nicht verschlechtert wird. Die Rechtsmittelinstanz kann die Strafe der Vorinstanz beibehalten, muss dies aber begründen, z.B. wenn die erste Instanz die Strafe zu tief angesetzt hatte (vgl. Art. 50 StGB und ständige Rechtsprechung, z.B. BGE 117 IV 395 E. 4).
  • Anwendung im vorliegenden Fall: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Gesamtfreiheitsstrafe für den Beschwerdeführer von 14 Monaten in erster Instanz auf 13 Monate in zweiter Instanz reduziert wurde. Da die Vergleichsbasis die Gesamtheit der im Dispositiv ausgesprochenen Strafen ist und diese zugunsten des Beschwerdeführers verändert wurde, liegt keine verbotene reformatio in pejus vor. Die Rüge wurde daher abgewiesen.

6. Entschädigungsansprüche (Art. 429 CPP)

Die Anträge des Beschwerdeführers auf eine Entschädigung gemäss Art. 429 CPP, eine Genugtuung von CHF 35'600 und eine Entschädigung für angeblichen wirtschaftlichen Schaden im Zusammenhang mit der erlittenen Haft, sowie seine Kritik an der Art der Strafe, wurden abgewiesen. Diese Anträge basierten auf dem (nicht erfolgreichen) Argument, seine vorherigen Rügen müssten gutgeheissen werden. Die Kritik an der Art der Strafe wurde zudem als ungenügend begründet (Art. 42 Abs. 2 LTF) erachtet.

7. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerde, soweit sie zulässig war, ab. Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege wurde abgelehnt, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war. Die Gerichtskosten von CHF 1'200 wurden dem Beschwerdeführer auferlegt, unter Berücksichtigung seiner finanziellen Verhältnisse.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen versuchter qualifizierter einfacher Körperverletzung, Tätlichkeiten, Ehrverletzung, Drohung, Nötigung und falscher Anschuldigung. Es verwarf die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich willkürlicher Sachverhaltsfeststellung und Verletzung der Unschuldsvermutung, indem es die ausführliche und konsistente Beweiswürdigung der Vorinstanz (gestützt auf Opferaussagen, Zeugenaussagen, Charakter des Täters und seine eigenen widersprüchlichen Aussagen) als nicht willkürlich erachtete. Eine Verletzung des Rechts auf Gehör und der Verbot der reformatio in pejus wurden ebenfalls verneint, Letzteres, weil die Gesamtstrafe durch die Vorinstanz reduziert und nicht verschlechtert wurde. Entschädigungsansprüche wurden folglich abgewiesen.