Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_37/2025 vom 27. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_37/2025 vom 27. November 2025 1. Einleitung und Verfahrensgegenstand

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (I. strafrechtliche Abteilung) befasst sich mit einer Beschwerde in Strafsachen gegen die Anordnung einer Landesverweisung. Der Beschwerdeführer A.__, ein somalischer Staatsangehöriger, wurde vom Regionalgericht Bern-Mittelland und in der Folge vom Obergericht des Kantons Bern der sexuellen Nötigung gemäss Art. 189 Abs. 1 StGB (in der bis zum 30. Juni 2024 geltenden Fassung) sowie der Widerhandlung gegen das Personenbeförderungsgesetz schuldig gesprochen. Er wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt und es wurde eine Landesverweisung für die Dauer von fünf Jahren, einschliesslich der Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS), sowie ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot angeordnet.

Der Beschwerdeführer focht die erstinstanzliche Verurteilung wegen sexueller Nötigung zunächst vor Obergericht an, wobei dieses den Schuldspruch bestätigte. Mit seiner Beschwerde an das Bundesgericht richtete sich A.__ ausschliesslich gegen die angeordnete Landesverweisung und deren Ausschreibung im SIS. Er rügte im Wesentlichen eine Verletzung von Art. 66a Abs. 2 StGB und Art. 8 EMRK und machte geltend, eine Rückführung nach Somalia sei unzumutbar.

2. Sachverhalt, der für die Landesverweisung massgeblich ist

Der Beschwerdeführer wurde 2003 in Somalia geboren, lebte ab seinem achten Lebensjahr in Äthiopien und reiste 2017 in die Schweiz ein, wo er vorläufig aufgenommen wurde, nachdem sein Asylgesuch abgewiesen worden war. Er besuchte die Schule in der Schweiz, absolvierte berufsvorbereitende Schuljahre und Schnupperlehren, und befindet sich derzeit in einer Lehre als Montage-Elektriker EFZ. Er ist nicht betrieben.

Seit 2022 ist der Beschwerdeführer Vater einer Tochter, die bei der Kindesmutter lebt. Er pflegt regelmässigen Kontakt zu ihr über Besuche und gibt an, das Sorgerecht mit der Kindesmutter zu teilen und in einer Beziehung mit ihr zu sein. Aufgrund seiner finanziellen Situation als Lehrling (monatlicher Verdienst von Fr. 680.--) und der Unterstützung durch den Asylsozialdienst der Stadt Bern kann er derzeit keine Unterhaltsbeiträge leisten. Er unterhält zudem regelmässigen Kontakt zu seiner ehemaligen Pflegefamilie in der Schweiz, während seine beiden Schwestern in Somalia leben.

Seine Vorstrafen umfassen, nebst den Anlasstaten, insbesondere Delikte wie mehrfachen Hausfriedensbruch, mehrfachen Diebstahl, mehrfache Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz, Sachbeschädigung mit grossem Schaden und einfache Körperverletzung. Auch nach dem erstinstanzlichen Urteil in der vorliegenden Sache trat er strafrechtlich in Erscheinung, wenn auch im Bagatellbereich (Urkundenfälschung und Erschleichen einer Leistung im Zusammenhang mit der Nutzung des öffentlichen Verkehrs).

Die sexuelle Nötigung wurde an einer damals noch minderjährigen Privatklägerin in einem besonders geschützten Umfeld (Räumlichkeiten einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft) begangen und führte bei der Geschädigten zu einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie zum Abbruch ihrer schulischen Ausbildung.

3. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht überprüfte die angeordnete Landesverweisung anhand der massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen und der dazu ergangenen Rechtsprechung:

3.1. Obligatorische Landesverweisung (Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB)

Das Gericht stellte fest, dass die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung gemäss Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB grundsätzlich erfüllt sind, da der Beschwerdeführer als somalischer Staatsangehöriger wegen sexueller Nötigung verurteilt wurde.

3.2. Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB) und Interessenabwägung

Die zentrale Frage des Verfahrens bildete die Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB, welche dem Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 2 BV) dient und restriktiv anzuwenden ist. Ein Absehen von der Landesverweisung ist nur möglich, wenn kumulativ (1.) ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt und (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist die besondere Situation von in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Ausländern zu berücksichtigen (Art. 66a Abs. 2 Satz 2 StGB).

Zur Prüfung des Härtefalls zieht das Bundesgericht den Kriterienkatalog des Art. 31 Abs. 1 VZAE (Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit) heran. Relevant sind namentlich: * Grad der Integration: Persönliche und wirtschaftliche Integration, Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Respektierung der Werte der Bundesverfassung, Sprachkompetenzen, Teilnahme am Wirtschaftsleben oder Erwerb von Bildung (Art. 58a AIG). * Familiäre Bindungen: In der Schweiz bzw. in der Heimat. * Aufenthaltsdauer. * Gesundheitszustand und Resozialisierungschancen.

Ein schwerer persönlicher Härtefall wird angenommen, wenn ein Eingriff von einer gewissen Tragweite in den Anspruch des Ausländers auf das in Art. 13 BV und Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vorliegt.

Wird ein Härtefall bejaht, erfolgt eine Interessenabwägung. Massgebend sind die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die sich darin manifestierende Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose.

3.3. Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK / Art. 13 BV)

Das Bundesgericht führt aus, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens berührt ist, wenn eine Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser zumutbar wäre, das Familienleben andernorts zu pflegen. Zum geschützten Familienkreis gehört in erster Linie die Kernfamilie (Ehegatten mit minderjährigen Kindern).

Bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 EMRK sind gemäss EGMR-Rechtsprechung insbesondere Art und Schwere der Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tat verstrichene Zeit, das Verhalten des Betroffenen und der Umfang der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Aufnahme- sowie im Heimatstaat zu berücksichtigen. Sind Kinder involviert, muss dem Kindeswohl Rechnung getragen werden. Es ist dabei zu unterscheiden, ob der von der Landesverweisung betroffene Elternteil Sorge- und Obhutsrecht hat oder nur ein Besuchsrecht wahrnimmt.

3.4. Vollzugshindernisse

Allfällige Vollzugshindernisse sind bereits bei der strafgerichtlichen Anordnung der Landesverweisung zu berücksichtigen, wenn sie stabil und definitiv bestimmbar sind. Liegt ein definitives Vollzugshindernis vor, muss der Sachrichter auf die Anordnung verzichten. Die Prüfung später auftretender Hindernisse obliegt den Vollzugsbehörden.

4. Anwendung der rechtlichen Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Das Bundesgericht lässt offen, ob ein schwerer Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB vorliegt, da es – wie die Vorinstanz eventualiter – eine umfassende Interessenabwägung vornimmt.

4.1. Öffentliche Interessen an der Landesverweisung
  • Schwere der Straftat: Die sexuelle Nötigung ist ein schwerwiegendes Delikt, bei dem die sexuelle Integrität als besonders schützenswertes Rechtsgut betroffen ist. Das öffentliche Interesse an der Verhinderung von Sexualdelikten ist äusserst stark zu gewichten. Die Tat an einer Minderjährigen in einem geschützten Umfeld und die gravierenden Folgen für das Opfer (PTBS, Schulabbruch) unterstreichen die Schwere.
  • Verschulden und Legalprognose: Obwohl das Verschulden des Beschwerdeführers im unteren Bereich liege und die Vorinstanz keine Schlechtprognose für den bedingten Vollzug annahm, gilt im ausländerrechtlichen Bereich ein strengerer Beurteilungsmassstab: Schon ein geringes Rückfallrisiko kann bei schweren Straftaten genügen. Das Bundesgericht verweist auf die mangelnde Einsicht des Beschwerdeführers an der Berufungsverhandlung.
  • Vorstrafen: Von erheblicher Bedeutung sind die mehrfachen Vorstrafen des Beschwerdeführers (Hausfriedensbruch, Diebstahl, BtMG-Verstösse, Sachbeschädigung, Körperverletzung). Das Bundesgericht betont, dass diese, auch wenn sie mehrheitlich unter das Jugendstrafrecht fielen, bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind, da sie ein zentrales Element des öffentlichen Interesses – das Rückfallrisiko – zum Ausdruck bringen (Querverweis auf BGE 149 IV 342 E. 2.5). Die "Bagatelldelikte" nach dem erstinstanzlichen Urteil bestätigen die wiederholte Delinquenz. Die Vorinstanz habe zu Recht Zweifel am künftigen Wohlverhalten gehegt, was auch die maximale Probezeit von fünf Jahren rechtfertige.
4.2. Private Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz
  • Aufenthaltsdauer und Integration: Der Beschwerdeführer hat einen Grossteil seiner prägenden Adoleszenz (acht Jahre, rund ein Drittel seines Lebens) in der Schweiz verbracht und eine grundsätzlich gute sprachliche, wirtschaftliche und soziale Integration erreicht. Diese gute Integration wird jedoch durch seine Vorstrafen relativiert.
  • Familiäre Bindung zur Tochter: Das Bundesgericht erkennt an, dass der Beschwerdeführer eine kleine Tochter in der Schweiz hat und sein Besuchsrecht wahrnimmt. Die Rüge des Beschwerdeführers, die Vorinstanz habe der fehlenden Angabe der Tochter in einem "Leumundsbericht" zu viel Gewicht beigemessen und Ferienbesuche oder Kurzaufenthalte würden bei einer Landesverweisung und SIS-Ausschreibung nicht möglich sein, erachtet das Bundesgericht als berechtigt. Ein Einreiseverbot würde dies verhindern (Art. 5 Abs. 1 lit. d AIG).
  • Relativierung der Familiären Bindung: Trotzdem stellt das Gericht fest, dass eine enge Eltern-Kind-Beziehung kein absolutes Hindernis für eine Landesverweisung darstellt (Querverweis auf Urteil 6B_143/2025 E. 1.5.5). Das Besuchsrecht kann grundsätzlich über moderne Kommunikationsmittel vom Ausland her wahrgenommen werden, es sei denn, es bestünde eine besonders enge wirtschaftliche und affektive Beziehung zum Kind, was hier nicht der Fall sei (Querverweis auf BGE 151 I 248 E. 5.6.1). Die Vorinstanz durfte demnach davon ausgehen, dass der Kontakt via Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden kann. Eine vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK erfasste unzumutbare Beziehung zur Mutter oder den Pflegeeltern wurde nicht dargelegt.
  • Resozialisierungschancen und Lage in Somalia: Das Gericht verneint eine Willkürrüge hinsichtlich der Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Somalia über ein familiäres Netz (Schwestern) und Vertrautheit mit Sprache und Gepflogenheiten verfüge. Die Vorinstanz habe die tatsächliche Lage in Somalia (niedriger Lebensstandard, instabile Verhältnisse) nicht "völlig ausgeblendet", sondern anerkannt und darauf hingewiesen, dass die in der Schweiz begonnene Lehre auch in Somalia hilfreich sein werde.
  • Vollzugshindernisse in Somalia: Rückführungen nach Somalia seien zwar aufwändig, aber gemäss Bericht des Staatssekretariats für Migration (SEM) möglich und zulässig. Die Behauptung des Beschwerdeführers, er müsste ohne Aufenthaltstitel in der Schweiz verbleiben, ist unzutreffend. Der Verweis auf generelle Armut und bewaffnete Auseinandersetzungen genügt nicht als konkrete Gefährdung (Querverweis auf Urteile 6B_771/2022; 6B_1368/2020). Die Tatsache, dass Somalia nicht auf der Liste der verfolgungssicheren Staaten steht, ist in diesem Kontext nicht entscheidend.
4.3. Ergebnis der Interessenabwägung

Im Ergebnis kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in der Schweiz überwiegen. Eine Verletzung von Bundes- oder Konventionsrecht liegt nicht vor. Die Dauer der Landesverweisung und deren Ausschreibung im SIS wurden vom Beschwerdeführer nicht gerügt und blieben daher unbeanstandet.

5. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wurde. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde wegen Aussichtslosigkeit abgewiesen. Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- wurden dem Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner finanziellen Lage auferlegt.

6. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigte die obligatorische Landesverweisung eines somalischen Staatsangehörigen, der wegen sexueller Nötigung verurteilt wurde. Es wies die Argumente des Beschwerdeführers bezüglich eines schweren Härtefalls und der Verletzung von Art. 8 EMRK ab. Die umfangreiche Interessenabwägung ergab, dass die öffentlichen Interessen an der Verhinderung schwerer Sexualdelikte und das durch mehrfache Vorstrafen manifestierte Rückfallrisiko des Täters die privaten Interessen des Beschwerdeführers (gute Integration, Bindung zur Tochter) überwiegen. Trotz der anerkannten Bedeutung der Vater-Kind-Beziehung wurde diese als nicht absolut hindernisfähig für eine Landesverweisung eingestuft, da der Kontakt über Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden könne. Auch allfällige Vollzugshindernisse in Somalia wurden als nicht definitiv erachtet.