Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_821/2025 vom 27. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_821/2025 vom 27. November 2025

1. Einleitung

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts, 1. Strafrechtliche Abteilung, betrifft einen Fall der obligatorischen Landesverweisung (Ausweisung) eines ausländischen Staatsangehörigen nach einer strafrechtlichen Verurteilung. Der Beschwerdeführer A.__, ein Staatsangehöriger Benins, focht die vom Kantonsgericht Bern bestätigte Landesverweisung für die Dauer von sieben Jahren sowie die damit verbundene SIS-Ausschreibung an. Das Bundesgericht wies die Beschwerde in den massgeblichen Punkten ab.

2. Sachverhalt

Der im Jahr 1971 in Benin geborene A.__ reiste 2004 als Asylsuchender in die Schweiz ein; sein Gesuch wurde im Dezember 2004 abgelehnt. Nach einer Heirat im Jahr 2008 erhielt er eine B-Bewilligung und ab September 2014 eine C-Bewilligung, deren Erneuerung zurzeit pendent ist. Er ist geschieden, kinderlos und seine Eltern in Benin sind verstorben. Seine engste Familie in der Schweiz besteht aus Neffen, Nichten, Brüdern und Schwestern. In Benin lebt sein älterer Bruder mit Familie.

A.__ bezog ab 2006, 2008 und beinahe ununterbrochen seit 2017 bis heute Sozialhilfeleistungen. Ab 2017 war er aufgrund einer Depression arbeitsunfähig, absolvierte jedoch eine sechsmonatige Ausbildung als Gesundheitshelfer. Ab Dezember 2020 erhielt er eine IV-Rente (theoretischer Invaliditätsgrad 100%), die jedoch per Mai 2023 suspendiert wurde. Er hat Sozialhilfeschulden von CHF 161'615.50 und Betreibungsschulden von CHF 50'000. Er war bislang unbestraft.

Trotz seiner theoretischen 100%-Invalidität organisierte A.__ einen umfangreichen und über 18 bis 24 Monate andauernden Handel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, der ihm mehrere Tausend Franken pro Monat einbrachte und Reisen in der Westschweiz umfasste. Daraus zog er einen persönlichen Gewinn von mindestens CHF 60'600. Er war zudem in den Handel und Tausch von Drogen involviert.

Das Regionalgericht Jura bernois-Seeland verurteilte A.__ am 6. März 2024 wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Abs. 2 BetmG), weiterer Widerhandlungen gegen das BetmG (Art. 19a Abs. 1 BetmG), Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz (Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG) und Geldwäscherei (Art. 305bis Ziff. 1 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 21 Monaten und ordnete die Landesverweisung für sieben Jahre an. Die Berner Vorinstanz bestätigte dieses Urteil am 19. August 2025.

3. Rechtliche Erwägungen und Begründung des Bundesgerichts

3.1. Die obligatorische Landesverweisung (Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB)

Das Bundesgericht stellte fest, dass die Verurteilung wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Abs. 2 lit. a BetmG) die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung nach Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB erfüllt. Diese Bestimmung sieht eine Ausweisung für fünf bis fünfzehn Jahre vor. Die Hauptfrage war, ob eine Ausnahme aufgrund der Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB) oder aufgrund internationaler Bestimmungen (Art. 8 EMRK, Art. 13 und 25 Abs. 3 BV) gerechtfertigt sei.

3.2. Die Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB)

Gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB kann von der Landesverweisung ausnahmsweise abgesehen werden, wenn diese für den Ausländer eine schwere persönliche Härte bedeuten würde und die öffentlichen Interessen an der Ausweisung die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Die Voraussetzungen sind kumulativ und restriktiv auszulegen (Hinweis auf BGE 144 IV 332 E. 3.3). Das Gericht orientiert sich an Kriterien wie der Integration des Betroffenen (gemäss Art. 58a Abs. 1 AIG: Respektierung der Sicherheit und öffentlichen Ordnung, der Werte der Verfassung, Sprachkenntnisse, Teilnahme am Wirtschaftsleben, Bildung), der familiären Situation, der finanziellen Lage, der Aufenthaltsdauer, dem Gesundheitszustand und den Wiedereingliederungsmöglichkeiten im Herkunftsland (Hinweis auf Art. 31 Abs. 1 VZAE und BGE 149 IV 231 E. 2.1.1).

  • 3.2.1. Schwere persönliche Härte (Art. 13 BV und Art. 8 EMRK) Eine schwere persönliche Härte liegt in der Regel vor, wenn die Ausweisung einen erheblichen Eingriff in das durch Art. 13 BV und Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt (BGE 149 IV 231 E. 2.1.1).

    • Privatleben (Art. 8 Abs. 1 EMRK): Das Bundesgericht wiederholte seine Praxis, wonach der Ausländer das Bestehen besonders intensiver sozialer und beruflicher Bindungen zur Schweiz nachweisen muss, die über eine gewöhnliche Integration hinausgehen. Eine schematische Betrachtung, die ab einer bestimmten Aufenthaltsdauer eine Verwurzelung annimmt, wird nicht vorgenommen. Jahre des illegalen Aufenthalts, der Haft oder des blossen Duldens finden nur ein geringes Gewicht (BGE 149 I 207 E. 5.3.1). Im vorliegenden Fall hielt das Bundesgericht fest, dass der Beschwerdeführer seine Behauptung einer guten Integration nicht stützen konnte. Trotz über 20 Jahren Aufenthalt in der Schweiz – wovon die ersten Jahre ohne Aufenthaltsrecht verbracht wurden und die Erlangung der Bewilligung durch eine mittlerweile geschiedene Ehe erfolgte – war seine Integration als schlecht zu beurteilen. Er war hoch verschuldet, lebte von Sozialleistungen und wies keine engen sozialen oder beruflichen Bindungen ausserhalb des Drogenmilieus auf.

    • Familienleben (Art. 8 Abs. 1 EMRK): Der Schutz von Art. 8 Abs. 1 EMRK erstreckt sich primär auf die Kernfamilie (Ehegatten, minderjährige Kinder im gemeinsamen Haushalt). Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern oder Geschwistern fallen nur dann darunter, wenn eine Abhängigkeitsbeziehung besteht, die über normale emotionale Bindungen hinausgeht, z.B. aufgrund von Krankheit oder Behinderung (BGE 144 II 1 E. 6.1). Der Beschwerdeführer ist geschieden und kinderlos. Es bestanden keine besonderen Abhängigkeitsbeziehungen zu seinen Neffen, Nichten, Brüdern oder Schwestern in der Schweiz. Das Bundesgericht verwies zudem auf die Präsenz von Familienangehörigen (älterer Bruder mit Familie) im Herkunftsland Benin.

    • Gesundheitszustand: Eine Landesverweisung kann im Hinblick auf den Gesundheitszustand und die Verfügbarkeit von Behandlungen im Herkunftsland unverhältnismässig sein (BGE 145 IV 455 E. 9.1). Massgeblich ist die Schwere der Erkrankung, die Verfügbarkeit medizinischer Leistungen im Herkunftsland und die negativen Folgen für die betroffene Person. Eine Person kann sich nicht auf überlegene medizinische Leistungen in der Schweiz berufen, wenn die benötigte Behandlung im Herkunftsland verfügbar ist. Der Beschwerdeführer berief sich auf Schizophrenie, posttraumatische Belastungsstörung sowie weitere psychische Probleme und seine 100%ige IV-Rente. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz die gesundheitlichen Probleme des Beschwerdeführers berücksichtigt hatte. Die IV-Rente war jedoch zum Zeitpunkt des Urteils suspendiert, da die AI eine Neubewertung aufgrund des lukrativen Drogenhandels vorgenommen hatte. Bezüglich der Verfügbarkeit von Behandlungen in Benin verwies das Bundesgericht auf die seit Februar 2021 obligatorische Krankenversicherung (ANPS), die für «extrem arme» Personen vom Staat zu 100% übernommen wird. Die vom Beschwerdeführer benötigten Medikamente (Antidepressiva, Benzodiazepine, Schlafmittel) seien "ungefähr überall auf der Welt und auch in Benin verfügbar". Auch psychologische Betreuung sei in Benin verfügbar (Verweis auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts und einen WHO-Bericht). Der Gesundheitszustand wurde daher nicht als Hindernis für die Ausweisung erachtet.

    Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass der Beschwerdeführer keine schwere persönliche Härte im Sinne der Gesetzgebung und Rechtsprechung geltend machen konnte.

  • 3.2.2. Interessenabwägung (Art. 5 Abs. 2 BV und Art. 8 Abs. 2 EMRK) Auch wenn eine schwere persönliche Härte angenommen würde, muss eine Abwägung zwischen dem privaten Interesse am Verbleib in der Schweiz und dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung erfolgen. Dabei sind die Natur und Schwere des Vergehens, die Dauer seit der Tat, das Verhalten des Täters, die Aufenthaltsdauer in der Schweiz sowie die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Herkunftsland zu berücksichtigen (Hinweis auf EMRK-Rechtsprechung, z.B. E.V. c. Suisse).

    • Privates Interesse: Das private Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz wurde trotz seiner langen Aufenthaltsdauer als begrenzt eingestuft. Dies aufgrund seiner schwachen Integration, des Fehlens besonderer sozio-beruflicher Bindungen, seiner Abhängigkeit von Sozialleistungen und des Fehlens einer Kernfamilie in der Schweiz. Seine Reintegrationschancen in Benin wurden als gut beurteilt: Er wuchs dort bis zum 33. Lebensjahr auf, spricht lokale Sprachen sowie Französisch, und hatte dort bereits verschiedene berufliche Tätigkeiten ausgeübt. Das Bundesgericht betonte, dass der Beschwerdeführer angesichts des Umfangs seiner illegalen Aktivitäten über alle notwendigen (physischen und psychischen) Fähigkeiten verfüge, um sich legal zu betätigen.

    • Öffentliches Interesse: Das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Beschwerdeführers wurde als hoch bewertet. Er wurde nicht nur wegen des Handels mit Medikamenten, sondern auch wegen des Handels mit harten Drogen (insbesondere Kokain) verurteilt. Die Mengen der gehandelten Medikamente überschritten die Schwellenwerte für schwere Fälle erheblich (Hinweis auf BGE 145 IV 312 E. 2.1.3). Das Bundesgericht betonte, dass in Fällen schwerer Betäubungsmitteldelikte ein erhebliches öffentliches Interesse an der Ausweisung besteht, da Drogen verheerende soziale und sicherheitstechnische Auswirkungen haben (Hinweis auf EMRK-Urteile K.M. c. Suisse und Dalia c. France). Die bedingte Freiheitsstrafe von 21 Monaten (über einem Jahr) ist gemäss Rechtsprechung ein Grund für den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung (Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG; BGE 139 I 145 E. 2.1). Die gewährte Bewährung war für die Frage der Ausweisung nicht entscheidend, da die Vorinstanz festhielt, dass der Beschwerdeführer über Jahrzehnte im Drogenmilieu tätig war und die Schwere seiner Taten nicht vollumfänglich erkannt hatte. Sein ungetadelter Leumund und seine angebliche Einsicht reichten nicht aus, um das wichtige öffentliche Interesse an seiner Ausweisung zu überwiegen.

3.3. SIS-Ausschreibung

Der Beschwerdeführer stellte keine spezifischen Rügen gegen die SIS-Ausschreibung an sich, sondern knüpfte diese an seine Ausweisung. Da die Ausweisung bestätigt wurde, wurde dieser Punkt als gegenstandslos erachtet.

3.4. Vollzug der Ausweisung nach Benin

Das Bundesgericht wies den Einwand des Beschwerdeführers zurück, wonach das Staatssekretariat für Migration (SEM) angegeben habe, dass Rückführungen nach Benin nur auf freiwilliger Basis möglich seien. Es verwies darauf, dass die Vorinstanz dies als nicht entscheidend erachtete und dass es bereits Bundesgerichtsentscheide gebe, die Ausweisungen nach Benin bestätigten. Eine mangelnde Kooperationsbereitschaft des Beschwerdeführers stelle kein wichtiges Hindernis für den Vollzug der Ausweisung dar (Hinweis auf Urteil 2C_370/2023 E. 4.2.2).

4. Fazit

Das Bundesgericht gelangte zur Überzeugung, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Beschwerdeführers, insbesondere angesichts der Schwere der von ihm begangenen Betäubungsmitteldelikte, des Fehlens familiärer und beruflicher Bindungen in der Schweiz sowie seiner schwachen Integration, sein privates Interesse am Verbleib in der Schweiz überwiegt. Die Vorinstanz hat weder Bundesrecht noch Konventionsrecht verletzt, indem sie die Landesverweisung anordnete. Die Beschwerde wurde somit abgewiesen, die subsidiäre Begehren hinfällig. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde mangels Erfolgsaussichten abgewiesen und die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt, wobei seine finanzielle Situation berücksichtigt wurde.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die obligatorische Landesverweisung eines beninischen Staatsangehörigen für sieben Jahre bestätigt, der wegen qualifizierter Betäubungsmitteldelikte, Geldwäscherei und Verstössen gegen das Heilmittelgesetz zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 21 Monaten verurteilt wurde. Es verneinte eine schwere persönliche Härte im Sinne der Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB). Die Integration des Beschwerdeführers in der Schweiz wurde als schlecht beurteilt (Sozialhilfeabhängigkeit, Schulden, keine engen sozialen/beruflichen Bindungen ausserhalb des Drogenmilieus). Seine gesundheitlichen Probleme wurden nicht als Hindernis für die Ausweisung betrachtet, da die erforderliche medizinische und psychologische Versorgung im Herkunftsland Benin als verfügbar erachtet wurde, und seine 100%-IV-Rente suspendiert war. Familiäre Bindungen in der Schweiz bezogen sich nicht auf die Kernfamilie und waren nicht von besonderer Abhängigkeit geprägt. Im Rahmen der Interessenabwägung wurde das öffentliche Interesse an der Bekämpfung schwerer Betäubungsmitteldelikte und der Schutz der öffentlichen Gesundheit als überragend gegenüber den begrenzten privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz gewichtet. Die Möglichkeit der Reintegration in Benin wurde als gegeben erachtet.