Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_728/2024 vom 4. Dezember 2025

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Die nachfolgende Zusammenfassung des Urteils 9C_728/2024 des schweizerischen Bundesgerichts vom 4. Dezember 2025 beleuchtet die massgebenden Punkte und rechtlichen Argumente im Detail.

1. Einführung und Streitgegenstand

Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten der A.__ d.o.o.e.l. (nachfolgend "Beschwerdeführerin"), einer in Mazedonien domizilierten Betreiberin von grenzüberschreitendem Linienbusverkehr, zu befinden. Streitgegenstand war die Nachforderung von Einfuhrabgaben (Zölle, Mehrwertsteuer) und der Pauschalen Schwerverkehrsabgabe (PSVA) durch das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG, nachfolgend "Beschwerdegegner") infolge der Durchführung sogenannter "Kabotage"-Transporte in der Schweiz. Die Beschwerdeführerin hatte sich gegen die Feststellung gewehrt, sie habe in den Jahren 2015 bis 2018 verbotene Binnentransporte durchgeführt und sei infolgedessen abgabepflichtig.

2. Sachverhaltliche Ausgangslage

Die Beschwerdeführerin betreibt Linienbusverkehr von Mazedonien in die Schweiz und umgekehrt, wofür sie über Bewilligungen des Bundesamtes für Verkehr (BAV) verfügt. Im September 2017 eröffnete die Eidgenössische Zollverwaltung (heute BAZG) eine Zollstrafuntersuchung wegen verbotener Binnentransporte. Im Oktober 2018 stellte der Zoll Nord die Nachforderung von Einfuhrabgaben und PSVA wegen "Nichtanmeldung von ausländischen Beförderungsmitteln zur Zollbehandlung und die anschliessende Durchführung von Binnentransporten (Kabotage) in der Schweiz" in Aussicht. Die daraufhin verfügte Nachforderung in Höhe von rund Fr. 436'045.80 (bestehend aus Zöllen, Gebühren, Mehrwertsteuer, PSVA und Verzugszinsen) wurde vom BAZG und in der Folge vom Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen bestätigt.

3. Prüfung der Rüge des rechtlichen Gehörs (prozedurale Fairness)

Die Beschwerdeführerin rügte mehrfach eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV. Das Bundesgericht wies diese Rügen detailliert zurück:

  • Fehlende Anzeige des Veranlagungsverfahrens: Das Gericht stellte fest, dass der Anwalt der Beschwerdeführerin bereits im Oktober 2017 telefonisch gegenüber der Zollbehörde bestätigt hatte, seine Vollmacht beziehe sich nicht nur auf das Beschwerdeverfahren, sondern auch auf die Zollstrafuntersuchung und das Abgabennachbezugsverfahren. Die Zustellvollmacht vom September 2017 habe zudem ebenfalls auf ein eingeleitetes Abgabennachbezugsverfahren hingewiesen. Damit musste der Beschwerdeführerin die Eröffnung bewusst gewesen sein.
  • Fristerstreckung und Akteneinsicht: Die Beschwerdeführerin behauptete, sie sei erst mit Anhörbrief vom 2. Oktober 2018 mit den Akten konfrontiert worden und ihr sei eine angemessene Fristerstreckung verwehrt worden. Das Gericht hielt dem entgegen, dass der Zoll Nord dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin nach Akteneinsicht eine Frist bis Ende Oktober 2018 gewährt hatte, die auf Antrag hin noch zweimal, zuletzt bis zum 28. November 2018, erstreckt wurde. Die Behauptung, entsprechende E-Mail-Verfügungen fehlten in den Akten, wurde vom Gericht als unzutreffend bezeichnet. Ein Mangel sei nicht erkennbar. Auch ein Anspruch auf Wiederherstellung einer Frist wurde verneint, da die versäumte Rechtshandlung nicht fristgerecht nachgeholt worden war.
  • Vollmachtsentzug und Befragung des Geschäftsführers: Die Beschwerdeführerin kritisierte, ihr Geschäftsführer sei ohne Rechtsvertretung befragt worden, obwohl er der deutschen Sprache nicht mächtig sei und die schweizerischen Verfahrensabläufe nicht kenne. Das Gericht hielt fest, dass der Geschäftsführer bei der Einvernahme am 10. September 2018 ausdrücklich auf den Beizug einer Rechtsvertretung verzichtet und erklärt hatte, diese erst in einem späteren Schritt beiziehen zu wollen. Zudem sei er von einem albanischen Übersetzer unterstützt worden. Die Kenntnis der schweizerischen Gesetzgebung wurde zudem aufgrund der engen Zusammenarbeit mit einer schweizerischen Partnerfirma (D.__ GmbH) und der Aussage des Geschäftsführers, sein Bruder verfüge über gute Kenntnisse in diesem Bereich, als gegeben erachtet. Eine allfällige Rechtsunkenntnis schützt zudem nicht vor rechtlichen Konsequenzen.
  • Verwertung von Beweismitteln aus anderen Verfahren: Die Rüge, Beweismittel aus Zollstrafprozessen dürften nicht im Abgabeverfahren verwendet werden, wurde vom Gericht zurückgewiesen, da die Vorinstanz bereits detailliert und zutreffend dargelegt habe, weshalb dies uneingeschränkt möglich sei.
  • Fehlerhafte Aktenführung: Die pauschale Rüge einer fehlerhaften Aktenführung ohne konkrete Nennung fehlender Unterlagen wurde als unbegründet erachtet. Das Bundesverwaltungsgericht hatte hierzu bereits festgestellt, dass die von der Beschwerdeführerin exemplarisch genannten Mängel haltlos seien.
  • Verletzung der Begründungspflicht: Die Begründung der Nachforderungsverfügung sei ausreichend gewesen, da der Sachverhalt und die rechtliche Grundlage aus der Verfügung selbst, dem zugestellten Schlussprotokoll und dem Anhörbrief vom 2. Oktober 2018 detailliert hervorgegangen seien.

Fazit zur prozeduralen Fairness: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass keine Anzeichen für eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorlagen.

4. Materiellrechtliche Prüfung: Einfuhrabgaben (Zölle und Mehrwertsteuer)

Der Kernpunkt des materiellen Rechtsstreits betraf die Frage, ob die von der Beschwerdeführerin durchgeführten Transporte als verbotene Binnentransporte (Kabotage) zu qualifizieren sind und somit die Einfuhrabgabenpflicht auslösen.

  • Grundlagen der Abgabepflicht: Die Einfuhr von Waren in das schweizerische Zollgebiet löst grundsätzlich die Zollpflicht (Art. 7 ZG) und die Einfuhrsteuerpflicht (Art. 50 ff. MWSTG) aus. Ausnahmen bestehen u.a. bei vorübergehender Verwendung von Waren (Art. 9 ZG i.V.m. Art. 30 ff. ZV und Art. 53 Abs. 1 lit. i MWSTG), wofür die Waren ordnungsgemäss angemeldet werden müssen (Art. 58 Abs. 1 ZG, Art. 162 ff. ZV).
  • Istanbul-Übereinkommen (IÜ): Das völkerrechtliche Istanbul-Übereinkommen (SR 0.631.24) regelt die vorübergehende Verwendung von Beförderungsmitteln. Art. 1 lit. a IÜ definiert sie als Zollverfahren, bei dem Waren unter Aussetzung der Eingangsabgaben für einen bestimmten Zweck in ein Zollgebiet verbracht und in unverändertem Zustand wieder ausgeführt werden dürfen. Eingangsabgaben umfassen dabei Zölle und andere Steuern (Art. 1 lit. b IÜ), namentlich die Einfuhrsteuer.
  • Kabotage-Verbot in der Schweiz: Art. 8 lit. a Anlage C IÜ räumt den Vertragsstaaten die Möglichkeit ein, die vorübergehende Verwendung für Beförderungsmittel, die im "Binnenverkehr" (trafic interne / internal traffic) gewerblich genutzt werden, zu untersagen. Die Schweiz hat diese Möglichkeit mit Art. 34 Abs. 1 ZV umgesetzt, indem sie die zollfreie vorübergehende Verwendung von ausländischen Beförderungsmitteln für Binnentransporte zu gewerblichen Zwecken untersagt hat.
  • Auslegung des Begriffs "Binnentransporte": Das Bundesgericht bestätigte seine bereits in Urteil 2C_677/2021 E. 3.4 dargelegte Rechtsprechung, wonach der Begriff des "Binnentransports" gemäss Art. 34 Abs. 1 ZV dem "Binnenverkehr" gemäss IÜ gleichzusetzen ist. Für die Auslegung dieses Begriffs ist die Perspektive des Beförderungsmittels massgebend (Urteil 2C_677/2021 E. 4.5).
    • Konkretisierung der Kabotage: Der Tatbestand der Kabotage ist erfüllt, wenn mit einem ausländischen Beförderungsmittel Personen im Inland aufgenommen werden, um sie an einem anderen Ort im Inland abzusetzen. Es ist unerheblich, ob die Person zuvor mit einem anderen Beförderungsmittel grenzüberschreitend transportiert wurde oder ob beide Beförderungsmittel demselben Transportunternehmen gehören. Jeglicher Binnentransport durch ein ausländisches Beförderungsmittel fällt unter das Kabotage-Verbot. Schon die Aufnahme eines einzigen Passagiers innerhalb der Schweiz, der an einen Zielort ebenfalls in der Schweiz transportiert wird, führt zur Nicht-Anwendung des Verfahrens der vorübergehenden Verwendung.

5. Würdigung der Argumentation der Beschwerdeführerin und Anwendung auf den Fall

Die Beschwerdeführerin bestritt den Sachverhalt nicht, vertrat aber die Ansicht, ihr Vorgehen – Passagiere von Mazedonien in die Schweiz mit mazedonischen Bussen, dann Umstieg in der Schweiz in andere mazedonische Busse desselben Unternehmens für Weiterfahrt zu einem anderen Schweizer Zielort – sei keine Kabotage. Sie argumentierte, es handle sich um eine "einheitliche Transportkette" aufgrund eines einzigen grenzüberschreitenden Transportvertrags und eines blossen "Umsteigens" innerhalb desselben Unternehmens.

Das Bundesgericht wies diese Argumentation zurück:

  • Die Beschwerdeführerin verkenne, dass die unzulässige Binnenfahrt mit dem zweiten ausländischen Bus beginnt, sobald Passagiere in der Schweiz aus einem ankommenden Bus aussteigen und zwecks Weiterreise an einen schweizerischen Zielort in einen anderen Bus eines ausländischen Transportunternehmens (auch desselben) einsteigen. Der Tatbestand ist mit dem Aussteigen der Passagiere am schweizerischen Zielort vollendet.
  • Es ist irrelevant, dass es für die Beschwerdeführerin "einfach gewesen" wäre, in der Schweiz immatrikulierte Fahrzeuge der Partnerfirma D.__ GmbH einzusetzen. Sie hat dies nicht getan.
  • Die Unterscheidung zwischen "Umsteigen" und "Absetzen" nach Massgabe der Zugehörigkeit der Busse zum selben oder einem anderen Unternehmen ist unerheblich. Der Fokus des IÜ liegt auf dem Beförderungsmittel. Die Kabotage ist erfüllt, wenn ein ausländisches Beförderungsmittel Personen im Inland aufnimmt, um sie im Inland abzusetzen.
  • Die Behauptung, die gesamte Beförderung umfasse eine einheitliche Transportkette, steht im Widerspruch zur hier massgeblichen Perspektive des Beförderungsmittels.

Konsequenz: Da die Reisebusse der Beschwerdeführerin fälschlicherweise dem Verfahren der vorübergehenden Verwendung unterstellt und keine Einfuhrabgaben entrichtet wurden, wurde die Verwaltungsgesetzgebung des Bundes verletzt. Die Beschwerdeführerin ist gemäss Art. 70 ZG Zollschuldnerin und hat einen unrechtmässigen Vorteil erlangt, weshalb eine Nachleistungspflicht gemäss Art. 12 Abs. 1 und 2 VStrR besteht. Das Abkommen zwischen der Schweiz und Mazedonien über den grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehr auf der Strasse (SR 0.741.619.520) unterstützt die Beschwerdeführerin ebenfalls nicht, da Art. 6 dieses Abkommens "Cabotagebeförderungen" explizit verbietet.

6. Pauschale Schwerverkehrsabgabe (PSVA)

Die rechtliche Grundlage für die PSVA bildet Art. 85 Abs. 1 BV i.V.m. dem Schwerverkehrsabgabegesetz (SVAG). Für ausländische Fahrzeuge wird die Abgabe mit der Einfahrt ins schweizerische Staatsgebiet fällig (Art. 12 Abs. 2 aSVAG). Da die Beschwerdeführerin weder die Rechtmässigkeit der Erhebung noch die Berechnung der PSVA bestritt und keine offensichtlichen Fehler ersichtlich waren, bestätigte das Bundesgericht das vorinstanzliche Urteil auch in diesem Punkt.

7. Schlussfolgerung

Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und wird abgewiesen. Eine Rückweisung an den Beschwerdegegner ist nicht erforderlich.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigt die Nachforderung von Einfuhrabgaben (Zöllen, Mehrwertsteuer) und der Pauschalen Schwerverkehrsabgabe (PSVA) wegen der Durchführung verbotener Binnentransporte (Kabotage) durch eine mazedonische Linienbusunternehmung in der Schweiz.

  1. Rechtliches Gehör: Alle Rügen der Beschwerdeführerin hinsichtlich einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (mangelnde Verfahrensanzeige, verweigerte Fristerstreckung, mangelnde Rechtsbeistandschaft, Beweismittelverwertung aus Strafverfahren, fehlerhafte Aktenführung, unzureichende Begründung) wurden nach eingehender Prüfung vom Bundesgericht als unbegründet zurückgewiesen.
  2. Kabotage-Definition: Die zentrale materiellrechtliche Frage, ob ein verbotener Binnentransport vorlag, wurde bejaht. Das Gericht präzisierte in Anlehnung an frühere Urteile, dass für die Auslegung des Begriffs "Binnentransporte" (Kabotage) die Perspektive des Beförderungsmittels massgebend ist.
  3. Anwendung auf den Fall: Ein Binnentransport liegt demnach vor, wenn ein ausländisches Beförderungsmittel Personen im Inland aufnimmt, um sie an einem anderen Ort im Inland abzusetzen. Dabei ist irrelevant, ob die Passagiere zuvor grenzüberschreitend transportiert wurden, ob beide Busse demselben Unternehmen gehören oder ob die Beschwerdeführerin von einem "einheitlichen Transportvertrag" sprach. Der blosse "Umstieg" von Passagieren in der Schweiz von einem ausländischen Bus in einen anderen ausländischen Bus desselben Unternehmens für eine Weiterfahrt innerhalb der Schweiz erfüllt den Tatbestand der Kabotage.
  4. Rechtsfolgen: Die Unterstellung der Busse unter das Verfahren der vorübergehenden Verwendung ohne Entrichtung von Abgaben war somit unrechtmässig. Die Nachforderung von Zöllen, Mehrwertsteuer und PSVA ist rechtens. Auch das bilaterale Abkommen mit Mazedonien verbietet explizit Kabotage.