Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_185/2025 vom 4. Dezember 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (8C_185/2025 vom 4. Dezember 2025)

Parteien und Streitgegenstand: Die Beschwerdeführerin, die IV-Stelle des Kantons St. Gallen, erhob Beschwerde gegen einen Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen. Streitgegenstand war der Anspruch des Beschwerdegegners A.__ auf eine Hilflosenentschädigung (inklusive Intensivpflegezuschlag) ab dem 1. Mai 2021 sowie die Rechtmässigkeit einer durch die IV-Stelle verfügten Rückforderung von Leistungen im Gesamtbetrag von Fr. 103'004.-.

Sachverhaltsübersicht: Der 2011 geborene A.__ leidet seit Geburt an einem Hypoventilationssyndrom. Er erhielt ab November 2011 eine Hilflosenentschädigung leichten Grades, die ab Januar 2014 auf mittleren Grad erhöht und ab Oktober 2014 um einen Intensivpflegezuschlag ergänzt wurde. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens im Mai 2023 erfuhr die IV-Stelle von einer operativen Entfernung des Tracheostomas im Jahr 2020, die zu einer deutlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes geführt hatte. Nach weiteren Abklärungen hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 22. August 2024 die Hilflosenentschädigung und den Intensivpflegezuschlag rückwirkend per 30. April 2021 auf und forderte die seither ausbezahlten Leistungen zurück.

Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die Beschwerde von A._ gut. Es stellte fest, dass A._ weiterhin Anspruch auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades habe, wies die Sache zur Festsetzung des Intensivpflegezuschlags an die IV-Stelle zurück und hob die Rückforderung ersatzlos auf.

Prozessuale Besonderheiten (Zulässigkeit des Zwischenentscheids): Das Bundesgericht qualifizierte den kantonalen Entscheid als Zwischenentscheid gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG, da er das Verfahren nicht abschliessend beendete, sondern die Sache zur Festsetzung des Intensivpflegezuschlags an die IV-Stelle zurückwies. Die Beschwerde war dennoch zulässig, da der IV-Stelle andernfalls ein nicht wieder gutzumachender Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) entstünde. Würde die Verwaltung gezwungen, eine ihrer Ansicht nach rechtswidrige leistungszusprechende Verfügung zu erlassen, könnte sie diese, da die Gegenpartei kein Interesse an einer Anfechtung hätte, später nicht mehr korrigieren.

Rechtliche Grundlagen der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlags: Das Bundesgericht legte die massgebenden Bestimmungen dar: * Hilflosenentschädigung (Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG): Anspruch bei Hilflosigkeit, abgestuft nach Schweregrad (schwer, mittelschwer, leicht). * Leichte Hilflosigkeit (Art. 37 Abs. 3 IVV): Gegeben, wenn die versicherte Person trotz Hilfsmitteln in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen (ALV) regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist (lit. a), einer dauernden persönlichen Überwachung (lit. b) oder einer durch das Gebrechen bedingten ständigen und besonders aufwendigen Pflege bedarf (lit. c). * Mittelschwere Hilflosigkeit (Art. 37 Abs. 2 IVV): Gegeben, wenn die versicherte Person in den meisten ALV regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist (lit. a) oder in mindestens zwei ALV regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf (lit. b). * Minderjährige (Art. 37 Abs. 4 IVV): Berücksichtigung nur des Mehrbedarfs an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters. * Intensivpflegezuschlag (Art. 42ter Abs. 3 IVG): Für Minderjährige mit intensivem Betreuungsaufwand (ab 4, 6 oder 8 Stunden pro Tag), nicht bei Heimaufenthalt. * Definition "dauernde persönliche Überwachung" (Art. 37 Abs. 2 lit. b und Abs. 3 lit. b IVV): Setzt keine ausschliessliche Bindung der betreuenden Person voraus; "dauernd" ist als Gegensatz zu "vorübergehend" zu verstehen (BGE 107 V 136 E. 1b). Der Aufwand muss jedoch eine gewisse Intensität erreichen und intensiver sein als eine allgemeine kollektive Überwachung (Urteile 8C_443/2024 E. 3.2, 8C_158/2008 E. 5.2.1).

Prüfung des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung ab 1. Mai 2021: Das Bundesgericht prüfte, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Anspruch auf Hilflosigkeit mittleren Grades bejahte.

  1. Abhängigkeit in alltäglichen Lebensverrichtungen (ALV):

    • Unbestritten: A.__ ist nicht mehr in den ALV "An-/Auskleiden", "Aufstehen/Absitzen/Abliegen", "Körperpflege" und "Fortbewegung" auf erhebliche Dritthilfe angewiesen.
    • "Verrichten der Notdurft": Die Vorinstanz stellte fest, dass A.__ bezüglich der direkten Dritthilfe selbstständig geworden sei. Sie bejahte jedoch eine Hilfsbedürftigkeit aufgrund von regelmässigem Stuhlschmieren, das überdurchschnittlich oft Wäschewaschen erfordere (etwa jede zweite Nacht). Das Bundesgericht verneinte die Erheblichkeit dieser (indirekten) Dritthilfe im Sinne von Art. 37 Abs. 2 IVV, da der Mehraufwand für das Waschen der verschmutzten Wäsche sich in Grenzen halte. Eine Diskussion der Schadenminderungspflicht (z.B. durch Tragen von Inkontinenzprodukten) erübrigte sich daher.
    • "Essen": Die Vorinstanz stellte fest, dass A.__ zwar keine relevante direkte Dritthilfe mehr benötige, jedoch aufgrund von Schluckproblemen und Aspirationen überwacht werden müsse. Das Bundesgericht liess offen, ob dies einen erheblichen Dritthilfebedarf darstellt. Da jedoch bereits in der ALV "Verrichten der Notdurft" keine erhebliche Hilfsbedürftigkeit vorlag, war die Voraussetzung von mindestens zwei hilfsbedürftigen ALV (Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV für leichte Hilflosigkeit) ohnehin nicht erfüllt.
  2. Dauernde persönliche Überwachung:

    • Die Vorinstanz bejahte die Notwendigkeit einer dauernden persönlichen Überwachung damit, dass die Mutter jede Nacht mehrmals aufstehen müsse, weil das Pulsoxymeter Alarm auslöse. Das Bundesgericht qualifizierte dies jedoch nicht als "dauernde persönliche Überwachung" im Sinne von Art. 37 Abs. 2 lit. b IVV, sondern als "Bereitschaftsdienst". Obwohl dieser einen nicht zu unterschätzenden Aufwand bedeute, erfülle er die rechtlichen Anforderungen an eine dauernde persönliche Überwachung, welche eine gewisse Intensität und eine über die allgemeine kollektive Überwachung hinausgehende Betreuung voraussetzt, nicht (vgl. Urteil 8C_443/2024 E. 3.4).

Fazit zum Leistungsanspruch: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass A.__ bereits ab dem 1. Mai 2021 keinen Anspruch mehr auf eine Hilflosenentschädigung – weder leichten noch mittleren Grades – hatte, da weder die Voraussetzungen für erhebliche Dritthilfe in mindestens zwei ALV noch für eine dauernde persönliche Überwachung erfüllt waren. Damit entfiel auch die Grundlage für den Intensivpflegezuschlag.

Rückwirkende Aufhebung der Leistungen und Rückforderung:

  1. Rechtmässigkeit der rückwirkenden Aufhebung:

    • Meldepflicht (Art. 77 IVV): Der Leistungsbezüger ist verpflichtet, jede für den Leistungsanspruch wesentliche Änderung (insbesondere des Gesundheitszustandes) unverzüglich der IV-Stelle anzuzeigen.
    • Rückwirkende Aufhebung (Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV): Eine Aufhebung kann rückwirkend ab Eintritt der anspruchserheblichen Änderung erfolgen, wenn der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat oder seiner Meldepflicht nicht nachgekommen ist.
    • Gerichtliche Würdigung: Das Bundesgericht stellte fest, dass A.__ bzw. seine gesetzliche Vertretung die Besserung des Gesundheitszustandes nicht von sich aus gemeldet und somit die Meldepflicht verletzt hatten. Auch der Einwand, die Verbesserung sei aus den Berichten eines Spitals ersichtlich gewesen, ändert nichts an der Zulässigkeit der rückwirkenden Leistungsaufhebung (vgl. Urteile 9C_33/2021 E. 3.2.1 und 8C_859/2017 E. 4.3). Die IV-Stelle war somit berechtigt, die Leistungen per 1. Mai 2021 rückwirkend aufzuheben.
  2. Verwirkung des Rückforderungsanspruchs (Art. 25 Abs. 2 ATSG):

    • Verwirkungsfristen: Der Rückforderungsanspruch erlischt drei Jahre, nachdem die Versicherungseinrichtung Kenntnis vom Rückforderungsanspruch erhalten hat, spätestens aber fünf Jahre seit der Auszahlung der einzelnen Leistung. Diese Fristen werden im IV-Bereich durch den Erlass des Vorbescheids (Art. 57a IVG) gewahrt.
    • Gerichtliche Würdigung: Der Vorbescheid der IV-Stelle erfolgte am 21. Mai 2024. Die Frage war, ob die IV-Stelle bereits vor dem 21. Mai 2021 Kenntnis von der Unrechtmässigkeit der Leistungen hatte. Das Bundesgericht verneinte dies. Der Bericht des Spitals B.__ vom 9. Mai 2020 habe nicht ergeben, dass sich der Gesundheitszustand des Beschwerdegegners soweit verbessert hätte, dass eine Hilflosigkeit im Sinne von Gesetz und Verordnung zu verneinen gewesen wäre. Kenntnis liegt erst vor, wenn die Versicherungseinrichtung aufgrund einer konkreten Überprüfung die Rechtswidrigkeit der Leistung eindeutig feststellen kann. Die blosse Möglichkeit, durch vertiefte Prüfung oder eine Revision des Dossiers zur Kenntnis zu gelangen, genügt nicht. Der Rückforderungsanspruch war somit nicht verwirkt.

Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hob den Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts auf und bestätigte die Verfügung der IV-Stelle vom 22. August 2024. Es verneinte einen über den 1. Mai 2021 hinausgehenden Anspruch auf Hilflosenentschädigung (inkl. Intensivpflegezuschlag) und bejahte das Recht der IV-Stelle, die Leistungen rückwirkend einzustellen und die zu Unrecht ausgerichteten Beträge zurückzufordern. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdegegner auferlegt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  • Kein Anspruch auf Hilflosenentschädigung: Das Bundesgericht verneinte den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung (auch leichten Grades) und damit auch den Intensivpflegezuschlag ab dem 1. Mai 2021, da die Kriterien der "erheblichen Dritthilfe" in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen sowie der "dauernden persönlichen Überwachung" nicht erfüllt waren.
  • Definition "dauernde persönliche Überwachung": Ein nächtlicher "Bereitschaftsdienst" aufgrund von Alarmen des Pulsoxymeters wurde nicht als "dauernde persönliche Überwachung" im rechtlichen Sinne qualifiziert, da ihm die notwendige Intensität fehle und er eher einem Bereitschaftsdienst als einer aktiven, intensiven Überwachung entspräche.
  • Meldepflichtverletzung und rückwirkende Aufhebung: Die fehlende Meldung der Gesundheitsverbesserung durch den Beschwerdegegner führte zu einer Verletzung der Meldepflicht gemäss Art. 77 IVV, was die IV-Stelle zur rückwirkenden Aufhebung der Leistungen per 1. Mai 2021 gemäss Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV berechtigte.
  • Rückforderung nicht verwirkt: Der Rückforderungsanspruch der IV-Stelle gemäss Art. 25 ATSG war nicht verwirkt. Das Bundesgericht stellte fest, dass die IV-Stelle erst mit den 2023 eingeleiteten Abklärungen, nicht aber bereits durch einen vorliegenden Spitalbericht von 2020, die massgebliche Kenntnis über die Leistungsunrechtmässigkeit erlangt hatte.
  • Aufhebung des kantonalen Urteils: Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der IV-Stelle gut, hob den kantonalen Entscheid auf und bestätigte die vollständige Leistungsaufhebung und Rückforderung durch die IV-Stelle.